Beruhige dich daher, ich beschwöre dich bei der zärtlichen und reinen Liebe, welche uns vereint; sie soll dir für meine Scheu und Zurückhaltung Bürgschaft sein, sie dir für sich selbst einstehen. Und warum sollten deine Befürchtungen weiter gehen als mein Verlangen? Nach welchem anderen Glücke könnte ich trachten, wenn mein ganzes Herz kaum hinreicht, das zu fassen, welches es jetzt empfindet? Wir sind beide noch jung, es ist wahr: wir lieben zum ersten und einzigen Male im Leben und haben keine Erfahrung in den Leidenschaften: aber ist die Ehre, die uns leitet, ein betrüglicher Leiter? Bedarf sie einer verdächtigen Erfahrung, welche man nur auf dem Wege des Lasters erwerben könnte? Ich weiß nicht, ob ich mich täusche; aber es scheint mir, daß alle redliche Gesinnung im Grunde meines Herzens wohnt. Ich bin kein schändlicher Verführer, wie du mich in deiner Seelenangst nennst, sondern ein schlichter fühlender Mensch, der leicht verräth, was er fühlt, und der nichts fühlt, worüber er erröthen müßte. Um Alles mit Einem Worte zu sagen, ich verabscheue noch mehr die Missethat als ich Julien liebe. Ich weiß nicht, nein, ich weiß gar nicht, ob die Liebe, der du in mir Leben giebst, sich damit verträgt, daß man der Tugend vergesse, und ob eine Seele, die nicht ganz rein ist, so ganz deinen Werth empfinden kann. Ich wenigstens, je mehr ich mich von ihr durchdrungen fühle, desto erhabener fühle ich mich. Was für Gutes, das ich um seiner selbst willen nicht gethan hätte, würde ich nicht jetzt thun, um mich deiner werth zu machen! Ach vertraue doch der Glut, die du in mir entzündest und die du so schön zu läutern weißt; glaube mir, es reicht hin, daß ich dich anbete, um ewig das kostbare Pfand, das du meiner Obhut übergeben hast, in Reinheit zu bewahren. Oh, welch ein Herz soll mein sein! Wahres Glück, Ruhm dessen, das man liebt, Triumph einer Liebe, die sich selber ehrt, wie viel mehr bist du werth, als alle ihre Freuden!
Sechster Brief.
Julie an Clara.
Willst du denn dein Leben lang die arme Choillot beweinen, liebe Cousine, und soll man wohl die Lebenden über die Todten vergessen? Dein Schmerz ist gerecht und ich theile ihn; aber soll er denn ewig währen? Seit dem Tode deiner Mutter hatte sie dich mit der größten Treue auferzogen; sie war mehr deine Freundin als deine Gouvernante; sie liebte dich zärtlich, und liebte auch mich, weil du mich liebst; sie hat uns nie andere als verständige und ehrbare Grundsätze eingepflanzt. Ich weiß das alles, meine Liebe, und gebe es mit Freuden zu. Aber gieb auch zu, daß die gute Frau nicht sehr vorsichtig mit uns umging, daß sie uns ohne Noth mit den unziemlichsten Dingen bekannt machte, daß sie uns beständig von den Regeln der Galanterie, von Abenteuern junger Leute, von Liebesschlichen vorschwätzte, und daß sie uns vor den Fallstricken der Männer nicht besser bewahren zu können glaubte, wenn sie uns auch nicht gerade lehrte ihnen welche zu legen, als indem sie uns tausend Dinge sagte, die ein junges Mädchen gar nicht zu wissen braucht. Tröste dich denn über ihren Verlust wie über ein Uebel, bei dem doch auch etwas Gutes ist: wir sind in einem Alter, wo ihre guten Lehren anfingen gefährlich zu werden, und vielleicht hat sie uns der Himmel in dem Augenblicke genommen, wo es nicht gut war, daß sie länger bei uns blieb. Denke an Alles, was du wir sagtest, als ich meinen lieben Bruder verlor. Ist dir die Chaillot mehr? Hast du größeres Recht, um sie zu klagen?
Komm nun zurück, Liebe! sie bedarf ja deiner nicht mehr. Ach, während du deine Zeit mit vergeblichem Kummer hinbringst, fürchtest du nicht, dir anderen, wirklichen zuzuziehen? Fürchtest du nicht, du, die du weißt, wie es um mein Herz steht, daß deine Freundin in Gefahren stürze, welche deine Gegenwart vielleicht verhütet hätte? Ach! was ist vorgegangen, seit du fort bist! Du wirst zittern, wenn du hörst, in welche Gefahr ich durch meine Unvorsichtigkeit gerathen bin. Ich hoffe jetzt daraus erlöst zu sein; aber ich hänge, so zu sagen, von fremder Gnade ab; du mußt mich zu mir selbst zurückführen. Spute dich, komm! Ich habe nichts gesagt, solange du deiner armen Bonne dienen konntest; ich würde die Erste gewesen sein, die dich antrieb, es zu thun. Seit sie todt ist, bist du es ihrer Familie wohl auch schuldig, aber wir werden hier für dieselbe gemeinschaftlich mehr thun können, als du dort auf dem Lande allein, und du wirst die Pflichten der Erkenntlichkeit erfüllen, ohne denen der Freundschaft etwas zu entziehen.
Seit der Abreise meines Vaters haben wir unsere alte Lebensart wieder angefangen und meine Mutter ist mehr um mich; jedoch mehr aus Gewohnheit als aus Mistrauen. Ihre Besuche rauben ihr jedoch auch manchen Augenblick, um dessen willen sie mein Bißchen Lernen nicht stören will, und Babi versieht dann ihre Stelle, nachlässig genug. Obgleich ich die gute Mutter viel zu vertrauensvoll finde, kann ich mich doch nicht entschließen, es ihr zu sagen; ich möchte gerne für meine Sicherheit sorgen, ohne ihre Achtung einzubüßen, und nur wenn du da bist, wird sich das alles vereinigen lassen. Komm also, meine Clara, komm ohne Verzug. Mich dauern die Stunden, die ich ohne dich nehme, und ich habe Furcht, gar zu klug zu werden; unser Lehrer ist nicht blos ein kenntnißreicher Mann, er ist tugendhaft, und nur desto mehr ist er zu fürchten. Ich bin zu sehr mit ihm zufrieden, um es mit mir zu sein: in seinem und unserem Alter ist es mit dem tugendhaftesten Manne, wenn er liebendswürdig ist, besser, zu zwei Mädchen zu sein, als eine. [Man sagt vielleicht, der Herausgeber hätte die Stylfehler verbessern sollen. Man hätte Recht bei einem Herausgeber, der auf solche Dinge Werth legt; oder bei Werken, deren Styl man ändern und umschmelzen kann, ohne sie zu verderben; oder wenn Einer seiner eigenen Feder sicher genug ist, um nicht mit eigenen Fehlern die des Verfassers zu vertauschen. Und was hätte man am Ende damit gewonnen, junge Schweizer wie Akademiker sprechen zu lassen? R.
Ich habe diese Anmerkung, die im Original an einer andern Stelle steht, hierher versetzt, weil sie mir hier gerade paßte und da sie an jeder passenden Stelle den gleichen Dienst thut. D. Ueberf.]
Siebenter Brief.
Antwort.
Ich verstehe dich und du machst mich zittern. Nicht weil ich die Gefahr für so dringend hielte, als du es dir einbildest. Deine Furcht mäßigt für den Augenblick die meinige, aber die Zukunft erschreckt mich, und wenn du dich nicht bezwingen kannst, so sehe ich nichts als Unglück vor uns. O Gott, wie oft hat es mir die arme Chaillot vorhergesagt, daß der erste Seufzer deines Herzens über das Schicksal deines Lebens entscheiden würde! Ach, Cousine, noch so jung, und schon soll sich das Schicksal erfüllen? O, warum fehlt sie uns jetzt, diese gewandte Frau, deren Verlust du für einen Vortheil hältst! Es wäre für uns vielleicht einer gewesen, gleich anfangs in sicherere Hände zu fallen; aber wir sind zu gut unterrichtet aus den ihrigen gekommen, um uns nun von anderen leiten zulassen, und doch nicht genug, um uns selbst zu leiten: sie allein würde uns vor den Gefahren beschützen können, denen sie uns ausgesetzt hatte, Sie hat uns Vieles vertraut, und wir haben, glaube ich, viel für unser Alter nachgedacht. Die warme, zärtliche Freundschaft, die uns fast von der Wiege an vereint, hat uns frühe das Herz, so zu sagen, aufgeklärt über alle Leidenschaften. Wir kennen ihre Merkmale und Folgen recht gut; aber nur die Kunst sie zu beherrschen verstehen wir nicht. Gebe Gott, daß dein junger Philosoph diese Kunst besser als wir verstehe.
Wenn ich sage: wir, so weißt du, was ich meine; ich spreche besonders von dir, denn was mich betrifft, so hat mir die Bonne immer gesagt, daß mein Flattersinn bei mir Vernunftstelle vertreten würde, daß ich nie das Geschick haben würde, zu lernen, was Liebe ist, und daß ich zu toll wäre, um eines Tages Tollheiten zu begehen. Meine Julie, nimm dich in Acht; je mehr Gutes sie sich von deinem verständigen Sinn versprach, desto mehr fürchtete sie für dein Herz. Sei indessen guten Muthes: was Klugheit und Ehrliebe vermögen, weiß ich, wird deine Seele thun; und die meinige, zweifle nicht, Alles, was die Freundschaft vermag. Wenn wir zu viel für unser Alter erfahren haben, so hat es doch unseren Sitten keinen Schaden gebracht, Glaube nur, meine Liebe, es giebt viel einfältigere Mädchen, die doch nicht so ehrbar sind wie wir: wir sind es, weil wir es sein wollen; und, was auch Einer sagen möge,