Ich bin, wie du weißt, nicht zu meinem Vergnügen fern von dir, und der Frühling ist gar nicht so angenehm auf dem Lande, als du denkst; man leidet Kälte und Hitze um die Wette; wenn man spaziren geht, giebt's keinen Schatten und im Hause muß man einheizen. Mein Vater seinerseits kann mitten unter seinen Bauereien doch nicht umhin zu fühlen, daß man die Zeitung hier später hat als in der Stadt. So sehnt sich im Grunde Alles weg von hier, und in vier oder fünf Tagen, hoffe ich, wirst du mich umarmen. Was mich beunruhigt, ist nur, daß vier oder fünf Tage ich weiß nicht wie viele Stunden haben, von denen mehre dem Philosophen gewidmet sind. Dem Philosophen, hörst du, Cousine? Denke daran, daß es nur für Den alle diese Stunden schlägt.
Erröthe mir hierbei nicht und schlag' die Augen nieder. Eine feierliche Miene annehmen, das ist dir unmöglich; das kann deinen Zügen nicht stehen. Du weißt ja, ich kann nicht weinen ohne zu lachen, und ich habe darum doch nicht weniger Gefühl; es schmerzt mich nicht weniger, daß ich von dir getrennt bin; und ich weine d'rum nicht weniger um die gute Chaillot. Wie danke ich dir, daß du mir helfen willst, für ihre Familie sorgen, ich werde sie so lange ich lebe nicht verlassen; aber du würdest nicht du selbst sein, wenn du eine Gelegenheit vorbeiließest, Gutes zu thun. Ich gestehe ein, daß die gute Mie [Mie — rufen die Kinder ihre Bonnen. (Wohl aus amie, Freundin, gekürzt?) D. Uebers.] redselig war, sich in ihren vertraulichen Aeußerungen nicht in Acht nahm, nicht bedachte, was für junge Mädchen nicht taugt, denn sie plauderte gar zu gern in ihren alten Tagen. Auch beweine ich sie nicht wegen ihrer geistigen Vorzüge, obgleich sie unter schlechten Eigenschaften doch auch sehr gute hatte. Das, was ich an ihr verloren habe, ist ihr gutes Herz, ihre treue Anhänglichkeit, wodurch sie mir zu einer zärtlichen Mutter und zu einer vertrauten Schwester geworden war. Sie war mir statt meiner ganzen Familie. Meine Mutter habe ich kaum gekannt; mein Vater liebt mich, so sehr er lieben kann: deinen liebenswürdigen Bruder haben wir verloren, die meinigen sehe ich fast niemals. So bin ich wie eine verlassene Waise. Mein Kind, ich habe nun nichts mehr als dich; denn deine gute Mutter ist du. Du hast aber Recht: du bleibst mir ja. Ich weinte; ich war närrisch; was brauchte ich zu weinen?
N. S. Damit nichts passire, addressire ich diesen Brief an unseren Lehrer; er wird so sicherer in deine Hände kommen.
Achter Brief.
An Julie.
[Man wird bemerken, daß hier eine Lücke ist; man wird dergleichen weiterhin noch öfter finden. Mehre Briefe sind verloren gegangen, andere vernichtet worden, andere beschnitten; aber es fehlt nichts Wesentliches, das man sich nicht mit Hülfe des Erhaltenen leicht hinzudenken könnte.]
Wie wunderlich, schöne Julie, sind der Liebe Launen! Mein Herz hat mehr, als es je hoffen durfte, und es ist doch nicht zufrieden. Sie lieben mich, Sie sagen es mir, und ich seufze! Dieses ungerechte Herz erkühnt sich noch zu wünschen, da nichts mehr zu wünschen ist; es straft mich mit seinen Phantasien und peinigt mich im Schoße meines Glückes. Glauben Sie nicht, daß ich die Gebote, die mir auferlegt sind, vergessen, oder den Willen verloren habe, sie zu halten; nein! aber ein geheimer Verdruß quält mich, da ich sehe, daß nur mir diese Gesetze schwer fallen, daß Sie, die Sie sich für so schwach ausgeben, jetzt so stark sind und daß ich so wenige Kämpfe gegen mich selbst zu bestehen habe, weil Sie allen Fleiß anwenden, ihnen zuvorzukommen.
Wie verändert Sie seit zwei Monaten sind! und doch hat sich nichts verändert außer Ihnen. Ihr Schmachten ist verschwunden; keine Rede mehr von Misgefühl und Abspannung; alle Grazien haben ihre Stelle wieder eingenommen; alle Ihre Reize haben sich neu belebt; die aufbrechende Rose ist nicht frischer; Ihre Munterkeit ist wieder da; Sie haben gute Einfälle für alle Welt; Sie scherzen selbst mit mir, ganz wie ehedem; und was mich mehr aufbringt als alles Uebrige, Sie schwören mir ewige Liebe mit so lachender Miene, als ob Sie die spaßhafteste Sache von der Welt vorbrächten.
Sage, sage, Flattergeist! ist dies das Wesen einer heftigen Leidenschaft, die mit sich zu kämpfen hat? Und wenn Ihnen im Geringsten darum zu thun wäre, sich selbst zu besiegen, würde der Anstrengung nicht wenigstens die Fröhlichkeit weichen? O, wie viel liebenswürdiger waren Sie, als Sie weniger schön waren! Wie leid ist es mir um diese rührende Blässe, die dem Liebenden ein kostbares Unterpfand seines Glückes ist! und wie verhaßt ist mir die unberufene Gesundheit, die Sie wieder gewonnen haben auf Kosten meiner Ruhe! Ja ,ich möchte Sie lieber noch krank sehen, als mit dieser heiteren Miene, diesen strahlenden Augen, dieser frischen Farbe, die mir Hohn spricht, Haben Sie es so bald vergessen, daß Sie nicht so waren, als Sie mein Mitleid anriefen? Julie, Julie, wie schnell ist diese glühende Liebe so kalt geworden!
Aber was mich am meisten kränkt, ist, daß Sie meinem Ehrgefühl und meiner Pflichtliebe, denen Sie sich zuerst rückhaltlos anheimgaben, jetzt zu mistrauen scheinen und sich vor Gefahren in Acht nehmen, als ob Sie etwas zu fürchten hätten. Lassen Sie so meiner Zurückhaltung Gerechtigkeit widerfahren? Und verdiente meine unverbrüchliche Ehrerbietung diesen Schimpf, den Sie mir anthun? Weit entfernt, daß die Abreise Ihres Vaters uns mehr Freiheit verschafft hätte, kann man Sie kaum allein sehen. Ihre unvermeidliche Cousine weicht nicht von Ihrer Seite. Unvermerkt kommen wir wieder in unser erstes Verhältnis und in die alte ängstliche Vorsichtigkeit hinein, nur mit dem Unterschiede, daß diese Ihnen damals auferlegt war, jetzt aber Ihnen selbst beliebt.
Welcher Lohn kann denn einer so reinen Ergebenheit zu Theil werden, wenn es nicht Ihre Werthschätzung sein soll? Und was hilft es mir, daß ich freiwillig immer und ewig Allem, was auf der Welt süß ist, entsage, wenn Die, der ich dieses Opfer bringe, es nicht einmal anerkennt? O wahrlich, ich bin es müde, vergeblich zu leiden und mich zu den härtesten Entbehrungen zu verdammen, ohne daß sie mir auch nur angerechnet werden. Wie! Sollen Sie ungestraft sich alle Tage verschönen, während Sie mich verachten? Sollen immer und immer nur meine Augen Reize verschlingen, denen nie mein Mund zu nahen wagt? Soll ich endlich auf jede Hoffnung verzichten und nicht einmal die Ehre erlangen, daß ich das saure Opfer gebracht habe? Nein! Da Sie meinem gegebenen Worte nicht vertrauen, will ich es nicht so unnöthiger Weise eingesetzt haben: das ist eine unbillige Sicherheit, die Sie aus meinem Wort und aus Ihrer Vorsicht zugleich gewinnen wollen; Ihr Undank ist zu groß oder meine Gewissenhaftigkeit und ich will meinem Glück jede Gelegenheit bezahlen, die es Ihnen nicht gelingen wird ihm zu rauben. Genug, was auch mein Schicksal sei, ich fühle, daß ich eine Last über meine Kräfte auf mich genommen habe. Julie, übernehmen Sie wieder die Hut Ihrer selbst, ich stelle Ihnen ein Pfand zurück, das zu gefährlich für die Treue das Verwahrers ist und dessen Vertheidigung Ihrem Herzen weniger schwer fallen wird, als Sie zu fürchten sich das Ansehen gaben. [Man kann in Bezug auf diese Gefühlssophistik vergleichen, was Rousseau in den „Bekenntnissen" von Erfahrungen mittheilt,