»Nein.«
»Er soll immer tiefere Gruben für seine Toten gegraben haben, so lange, bis er irgendwann beschloss, in noch tiefere Tiefen vorzustoßen, nur um zu sehen, wie weit er wohl käme ...«
»Ja und?«
»Er ist nie wieder aus seinem Loch hervorgekommen.«
»Ich schätze, es gibt auch eine Moral von der Geschichte, Leutnant.«
»Wie soll ich das wissen? Der Typ ist noch immer am Buddeln.«
»Verstehe ...« Zine nickt.
Guerd ist beglückt, seinem Untergebenen das Maul gestopft zu haben.
Zine dagegen bereut, dem Leutnant eine Steilvorlage geliefert zu haben. Dabei hatte er sich geschworen, sich nicht mehr provozieren zu lassen, weil der letzte Idiot dann oft das letzte Wort behält, auch wenn er vorher um jede Antwort verlegen war. Und nun hat er es wieder verpatzt. Aber wie soll man sich auch nicht hinreißen lassen? In Algerien muss man so viele Kränkungen wegstecken, dass man zwangsläufig aggressiv reagiert. Wer Schwamm drüber sagt, wischt sich selbst mit aus, wer schweigt, tut sich selbst Gewalt an. Wenn es hart auf hart kommt, muss der Sarkasmus sich in mörderische Metaphern kleiden. In einem Land, in dem der Schein alles andere überdeckt, rufen die sarkastischen Spitzen nach Bild und Ton. Das allein rettet die Frustration davor, in Agonie abzugleiten.
Guerd kommt auf den Grund seines Besuchs zurück:
»Wir haben seit heute Morgen eine Leiche am Hals.«
»Ich bin informiert.«
»Wir haben nichts, um sie zu identifizieren. Ich will, dass du sämtliche Kommissariate anrufst, um zu sehen, ob jemand das Verschwinden eines brünetten jungen Mädchens angezeigt hat, circa zwanzig Jahre alt, grüne Augen, etwa einen Meter sechzig groß. Alles deutet darauf hin, dass sie etwas feierte. Geh alle Festsäle und Hotels durch und check ab, ob es irgendwo Randale gab, einen Streit, der übel ausgegangen ist, irgendwas in der Art.«
»Das ist alles?«
»Ja, außer dass ich deinen Bericht allerspätestens morgen um 15 Uhr auf meinem Schreibtisch sehen will.«
»Schon notiert.«
»Das rat ich dir auch«, grummelt der Leutnant und verlässt den Abstellraum.
Der Inspektor betrachtet noch eine Weile den Platz, an dem sein Vorgesetzter sich aufgehalten hat, dann gießt er sich einen großen Schluck Kaffee ein, den er in einem Zug hinunterschüttet, und dreht sich um zu Nelson Mandelas Porträt an der Wand hinter ihm.
7.
Nachdem er sich vergewissert hat, dass ihm niemand folgt, spurtet Ed Dayem eine steile Treppe hinunter, die auf einen kleinen Platz führt. Unten angekommen, springt er ins nächste Taxi und befiehlt dem Fahrer, ihn in den Stadtteil Annassers zu bringen. Jedes Mal, wenn hinter ihm ein verdächtiges Fahrzeug auftaucht, duckt Ed sich auf dem Rücksitz. Beunruhigt fragt ihn der Taxifahrer, ob etwas nicht stimmt.
»Kümmere dich um die Straße und lass mich in Ruhe, kapiert?«
»Ich dachte, es ginge Ihnen nicht gut.«
»Bist du etwa Arzt?«
»Nein.«
»Dann halt die Klappe!«
Der Fahrer macht eine entschuldigende Handbewegung und verschmilzt aufs Neue mit seinem Lenkrad.
Ed fühlt sich mies. Seine Unterredung mit Hamerlaine hat ihn furchtbar mitgenommen. Für jemanden, der es verabscheut, dass die Dinge ihm entgleiten, ist das Maß mehr als voll. Seit einiger Zeit schon hat er nichts mehr im Griff. Er, der Kaltblütige, der bisher noch jeden, der ihn reinlegen wollte, ausgetrickst hat. Wenn er jahrelang ungehindert wüten konnte, dann nur, weil er nichts von seinen Absichten und Selbstzweifeln durchscheinen ließ. Doch seit einigen Monaten ist er für seine Widersacher so transparent wie ein Röntgenbild. Zwar manipuliert er seine Umwelt noch mit Meisterhand, aber der Sumpf, zu dem Algier sich entwickelt hat, ist inzwischen derart mit Krokodilen verseucht, dass das Baden immer gefährlicher wird. Eben deshalb ist er nach Spanien übergesiedelt. Er kann anderen noch immer sehr gefährlich werden, und sein Netzwerk ist weitgehend intakt. Doch sein Revier wirkt weniger uneinnehmbar als früher, seit eine neue Generation von Aasgeiern am Werk ist. Die kurzen Prozess macht, der nichts mehr heilig ist. Und die mit unfassbarer Respektlosigkeit sämtliche Konventionen mit Füßen tritt. Die neuen Beutegeier kennen weder Geduld noch Skrupel. Sie wollen alles, und zwar sofort. Ohne Zugeständnisse, und ohne zu teilen.
Ed Dayem ist nicht traurig, seinen Platz zu räumen, nur seine Privilegien, auf die würde er ungern verzichten. Er ist reich, und noch immer verteufelt einflussreich, und obwohl er nicht abgeneigt wäre, sich zur Ruhe zu setzen, zöge er es doch vor, nicht gleich lebendig begraben zu werden. Wenn Algerien so tief gesunken ist, dann ist Ed Dayem daran nicht ganz unschuldig. Er hat sein Leben lang Karrieren und Ehen zerstört, Bündnisse und Projekte sabotiert. Wie viele anständige Leute hat er nicht in den moralischen oder materiellen Ruin getrieben, wie viele Wissenschaftler, Aktivisten, kluge Köpfe ins Exil? Wie viele graue Eminenzen sind seinetwegen nicht schon in der Psychiatrie gelandet, wie viele Nationalhelden hat er nicht durch den Schlamm gezogen, bevor er ihnen den Todesstoß versetzte? Noch heute, mit seinen fünfundsechzig Jahren, ist ihm keine Quälerei zuwider, kommt kein Charisma gegen ihn an. War nicht er es, der lauthals verkündet hat, jeder Kopf, der die Masse überragt, gehöre gekürzt? War nicht er es, der aus der Meinungsfreiheit die Freiheit gemacht hat, ungestraft über jeden alles und jedes zu behaupten?
Ed Dayem ist ein gefürchteter Mann. So gefürchtet wie Krebs und böser Blick zugleich ... Und doch kann er nicht mehr nach Algerien heimkehren, ohne dass seine Eingeweide sich zusammenkrampfen.
Kurz bevor sie Annassers erreichen, bittet Ed den Fahrer unter dem Vorwand, ihm sei eben noch ein wichtiger Termin eingefallen, in Richtung des Golf-Viertels abzudrehen. Er lässt sich in der Nähe eines Marktes absetzen, geht ein paar hundert Meter zu Fuß, hält dann am Straßenrand ein vorüberfahrendes Taxi an und lässt sich nach Chéraga bringen. Dort angekommen, wartet er, bis das Taxi um die Ecke gebogen ist, umrundet dann noch einen Häuserblock und tritt endlich den Heimweg an. Es ist Ed klar, dass er unter Verfolgungswahn leidet, aber er kann nicht anders. Er weiß, dass Algier wie ein Schießstand ist, wo ihn jederzeit eine verirrte Kugel treffen kann.
Seine Villa steht am Ende einer von Bougainvilleen gesäumten Allee. Ein prachtvolles Anwesen im Kolonialstil, das er dem Staat in jener Epoche, als die herrenlosen Güter veräußert wurden, für einen symbolischen Dinar abgekauft hat, nachdem er zuvor rasch die Witwe eines Märtyrers der algerischen Revolution daraus verjagt hatte, die dort seit 1963 wohnte. Es ist eine ruhige, reinliche Gegend. Zahlreiche hohe Funktionäre genießen dort das süße Leben, ohne dass es sie groß was kostet. Die nachbarschaftlichen Kontakte beschränken sich auf unverbindliches Grüßen; Kinder sieht man, anders als in den volkstümlichen Vierteln, nur sehr selten auf der Straße.
Zu Hause angekommen, entlässt Ed Dayem seinen Hausmeister in den Feierabend, nimmt eine heiße Dusche, um zu entspannen, lässt sich danach splitternackt in einen Sessel sinken und ruft im Büro an.
»Hallo, Sido ... Nein, ich bin schon heute Morgen zurückgekommen. Wie läuft es ...? Sehr gut. Ist Post da ...? Kann das nicht bis morgen warten ...? Okay, schick mir die Verträge und alles, was keinen Aufschub duldet ... Nein, nicht mit Mostefa. Ich hatte dich doch angewiesen, ihn zu feuern, oder ...? Seine Entschuldigungen gehen mir sonst wo vorbei. Ich will ihn nicht mehr durch den Verlag schleichen sehen. Schick mir jemand anderen, und zwar gleich. Ich bin total kaputt und will früh ins Bett.«
Er knallt das Mobilteil so heftig auf die Basis, dass es fast zu Bruch gegangen wäre, gießt sich ein Glas Scotch ein und stellt den Fernseher an.
Er war schon fast eingedöst, da klingelt es an der Tür. Er erkennt Basma, eine seiner Angestellten, auf dem Display der Überwachungskamera, betätigt den Öffner und wirft sich im Schlafzimmer noch rasch einen Bademantel über.
»Ich