Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643107
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      Tanja Noy

      Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5

      Für Katja.

       Immer.

      Saga

      Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 2017, 2020 Tanja Noy und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726643107

      1. Ebook-Auflage, 2020

      Format: EPUB 3.0

      Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

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      – a part of Egmont www.egmont.com

TEIL 1

      1. KAPITEL

      Der Turm der Seelen

      23. Dezember 2010

      Hannover

      16:46 Uhr

      Der Wind pfiff auf eine Art und Weise, wie sie es noch nie zuvor gehört hatten, während nadelspitze Kristalle durch die Luft und ihnen in die Gesichter jagten. Frierend zog Eva sich die Strickmütze etwas weiter über die Ohren und sagte: „Es kommt mir vor, als würden wir uns auf dem Mond bewegen.“

      Und da hatte sie nicht unrecht. Einmal ganz davon abgesehen, dass sie in ihren dicken Jacken und den unförmigen, kniehohen Stiefeln tatsächlich aussahen wie Mitglieder einer Mondlandungsexpedition, hätte ein Abend auf dem kalten Mond vor allem nicht einsamer sein können. Erst sehr weit hinter ihnen war das Glitzern der fernen Lichterkette zu sehen, die Stadt und Leben bedeutete. Vor ihnen schlängelte sich lediglich ein schmaler Weg, kaum breiter als ein Nadelöhr. Das einzige Geräusch - abgesehen vom launischen Wind, der abwechselnd mal drohend und mal melancholisch pfiff - waren ihre Schritte im hohen Schnee. Am dunklen Himmel war nicht ein einziger Stern zu sehen, übrigens auch kein Mond, und allmählich ging ihnen die Puste aus.

      Julia blieb stehen, kniff die Augen zusammen und sah einen Moment lang in den dunklen Himmel. Dann blickte sie wieder geradeaus. Vor ihnen tauchten bereits die unregelmäßigen Konturen des Turms auf, der sich eindrucksvoll über der weißen Schneelandschaft erhob.

      „Ich finde diesen Turm unheimlich“, bemerkte Eva, ohne stehen zu bleiben.

      „Es ist ein ganz normaler Turm.“ Julia setzte sich wieder in Bewegung und folgte ihr. „Im Sommer eine Touristenattraktion und jetzt im Winter eben einsam und verlassen.“

      Eva machte ein Geräusch, das nicht zu deuten war. „Es ranken sich jede Menge Gerüchte darum, das weißt du. Es heißt, er sei seit seiner Erbauung das Tor zu einer anderen Welt. Es wird behauptet, er wäre die Heimat aller bösen Geister und …“

      „Hör auf damit, okay? Wir dürfen nicht darauf hereinfallen.“

      „Worauf?“

      „Auf solche Legenden. Das ist genau die Art Angst, die die Kraniche schüren. Und gerade du als Wissenschaftlerin glaubst ja wohl an die Macht der Tatsachen und des wissenschaftlichen Beweises. Nicht an solchen Aberglauben.“

      Eva schob ihren Schal etwas weiter übers Gesicht, sofort blieben die Schneeflocken in der weichen Wolle hängen und durchnässten sie noch weiter. „Gerade in der Wissenschaft ist nichts unmöglich, Julia. Nur im wissenschaftlichen Sinne unwahrscheinlich. Und nach allem, was wir bereits hinter uns haben …“

      „Es ist nur ein alter Turm. Daran ist absolut nichts Übernatürliches. Können wir es bitte dabei belassen?“

      „Wenn du meinst.“ Eine unerwartet heftige Windbö erwischte Eva und brachte sie ins Wanken. Mühsam kämpfte sie um ihr Gleichgewicht.

      „Häng dich bei mir ein“, sagte Julia, die ebenfalls Schwierigkeiten hatte, das Gleichgewicht zu halten.

      Eva griff nach ihrem Arm und hielt sich daran fest. „Und übrigens sage ich als Wissenschaftlerin auch“, setzte sie nach ein paar weiteren Metern hinzu, „dass der Schlüssel zu jedem Geheimnis in der Dekonstruktion liegt. Das Ganze muss zerlegt werden, um die Einzelteile zum Vorschein zu bringen. Die einzelnen Teile sind bedeutungsvoller als das Ganze.“

      „Die Einzelteile haben vor einer Stunde noch vor uns auf dem Tisch gelegen“, gab Julia zurück. „Drei Schlüssel, ein Medaillon, ein Schwert und ein paar Kinderzeichnungen. Und bis auf das Medaillon gab mir nichts davon eine Antwort.“

      „Hast du es bei dir?“

      „Was?“

      „Das Medaillon.“

      „Ja.“

      „Zeig es noch mal.“

      „Jetzt?“

      „Ja.“

      Julia blieb stehen und zog das Medaillon mit einem Seufzer aus ihrer Jackentasche. Es war rund, golden und mit allerlei Motiven und Schriftzügen verziert. Stunden hatten sie mit dem Versuch verbracht, es zu öffnen, doch es gab keine erkennbare Möglichkeit. Sie hatten es in alle Richtungen gedreht und nach Ritzen Ausschau gehalten, in die man einen Fingernagel hätte schieben können. Nichts. Das Medaillon war und blieb verschlossen. Was ihnen am Ende weitergeholfen hatte, waren die Gravuren auf dem Deckel. Kreise, Striche, Kreuze und Punkte. Eine Schrift, krakelig und völlig fremd, eine Sprache, die man nicht in der Schule lernte. Nicht Griechisch, nicht Hebräisch, nicht Arabisch. Trotzdem konnte Julia ihre Bedeutung verstehen. Jedenfalls teilweise: Die Engel leiten dich. Und: Seelenturm.

      Sie steckte das Medaillon zurück in die Jackentasche. Den Seelenturm, den Turm der Seelen, hatten sie gefunden. Was jetzt kam, was sie dort erwartete, stand in den Sternen.

      Sie setzten sich wieder in Bewegung und marschierten schweigend ein paar Meter.

      „Und was ist mit dem fürchterlichen Schwert?“, fragte Eva dann.

      Julia spürte, wie ihr linkes Auge unwillkürlich anfing unkontrolliert zu zucken. Sie trug es bei sich, in dem großen Seesack, der über ihrer Schulter hing. Das fürchterliche Schwert.

      „Es wirkt ziemlich alt, oder?“, fügte Eva hinzu. „Fast so, als käme es aus dem Mittelalter.“

      „Vielleicht ist das Absicht.“ Julia schwieg einen Moment und fügte dann hinzu: „Auf jeden Fall wollte Sten Kjaer mich damit umbringen.“ Für einen kurzen Augenblick sah sie die Bilder wieder vor sich, sah sich selbst, sah Kjaer, sah den Kampf mit ihm, bei dem sie ganz auf sich alleine gestellt gewesen war. Er hatte das Schwert. Sie hatte nichts. Und trotzdem hatte sie den Kampf gewonnen.

      „Ich habe einmal irgendwo gelesen, dass ein Schwert die Seele seines Kriegers in sich trägt“, bemerkte Eva. „Und manchmal auch die Seelen derjenigen, die durch das Schwert starben.“

      „Wirklich? Das würde bedeuten, dass Kjaer jetzt auf meiner Schulter sitzt.“ Julia verzog das Gesicht. „Das würde mir gar nicht gefallen.“

      „Wie auch immer. Du warst besser als er.“

      „Ich weiß nicht, ob ich wirklich besser war. Wahrscheinlich hatte ich einfach nur mehr Glück.“

      Kurze Zeit später hatten sie den Turm erreicht.

      „Wir sind da. Gott sei Dank.“ Die Erleichterung in Evas Stimme war nicht zu überhören.

      Julia blickte nach oben und spürte, wie ihr Herz zu pochen begann. Sie senkte den Blick wieder und leuchtete mit der Taschenlampe den Eingang des Turms an. Dort verdichtete sich ihr Schein zu einer unruhigen Lache aus Licht. „Lass uns reingehen und es hinter uns bringen.“

      Während sie die steilen Steintreppen hinaufstiegen, schien sich das Stöhnen des Windes auf einmal zu verändern. Jetzt hörte er sich plötzlich an wie ein altes Ungeheuer, das aus einem jahrhundertelangen Schlaf erwacht war.

      „Mann, das ist wirklich unheimlich“, murmelte Eva.

      „Es ist nur der Wind“,