Christentum und Europa. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783374058549
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Reihenfolge voneinander ab. Der Tanach gibt mehr oder weniger den Vorgang der Kanonisierung wieder. Das Alte Testament wiederum folgt der Anordnung nach Gattungen in der Septuaginta, der antiken jüdischen Übersetzung des Tanachs ins Griechische, die von der griechisch sprechenden frühchristlichen Kirche als Heilige Schrift übernommen wurde. Dort bilden nach dem einleitenden Pentateuch die Geschichtsbücher den zweiten Teil des Alten Testaments, die Weisheitsbücher den dritten und die Propheten den vierten. Nicht zufällig kommt diese Reihenfolge der christlichen Theologie entgegen – wir könnten in diesem Fall sogar von Teleologie sprechen. Denn diese Reihenfolge der Bücher lässt eine christologische Interpretation zu, nach der die historischen Bücher auf die Vergangenheit, die Weisheitsbücher auf die Gegenwart und die Propheten auf die Zukunft bzw. auf die Offenbarung des Neuen Testaments bezogen sind. Wenn man bedenkt, dass das Christentum unter den sechshundertdreizehn Geboten, die das Judentum im Pentateuch zählt, vor allem die sogenannten Zehn Gebote hervorhebt,7 könnte man sagen, dass das theologische Gefälle in den beiden religiösen Traditionen geradezu gegenläufig ist: Das Judentum betont die vorderen Bücher, das Christentum den Schluss.

      Hinzu kommt die Tatsache, dass die katholische wie auch die verschiedenen orthodoxen Kirchen ihr Altes Testament um unterschiedliche apokryphe Texte erweitern. Dies alles deutet darauf hin, dass das Buch, von dem man annehmen sollte, dass es uns untereinander verbindet, uns tatsächlich voneinander trennt, da wir es unterschiedlich verstehen und es auf unterschiedliche Weise in unseren Theologien auf- und wahrnehmen.8

      Diese Behauptung wird dadurch unterstrichen, dass im Christentum – im Gegensatz zum Judentum – der Begriff »Bibel« ohne das Neue Testament unvorstellbar ist. Die drei abrahamitischen Schriftreligionen gründen mehr oder weniger auf den Traditionen der hebräischen Bibel. Aber alle drei haben ihre biblischen Grundlagen geändert und weiterentwickelt. Und alle drei haben Wege gefunden, diese Weiterentwicklung zu rechtfertigen. Das rabbinische Judentum, aus dem das moderne Judentum erwachsen ist, hat seine Neudeutungen, die im Talmud zu finden sind, der Heiligen Schrift des Tanachs gleichgesetzt, indem die Rabbinen behauptet haben, dass Mose am Berg Sinai zugleich mit der schriftlichen eine mündliche Offenbarung erhalten habe. Auf diese Weise haben sie ihre Fortschreibung – und Veränderung – der schriftlichen Tradition dem Tanach gleichgesetzt.9

      Das Christentum hat das Problem einer späteren Offenbarung dadurch gelöst, dass es dem Neuen Testament als der Erneuerung des Bundes zwischen Gott und den Menschen den Vorrang vor dem Alten Testament gegeben hat. So verstanden ist das Alte Testament ein Vorspiel zu der zweiten und wichtigsten Offenbarung im Neuen. Dies löste eine gewisse Spannung in der christlichen Theologie aus, die bis auf den heutigen Tag noch nicht zufriedenstellend gelöst wurde, nämlich die Frage nach der Stellung des Alten gegenüber dem Neuen Testament. Da die Rede vom »Alten« gegenüber dem »Neuen« von manchen als für die Anhänger des sogenannten Alten beleidigend empfunden wird, haben einige christliche Theologinnen und Theologen vorgeschlagen, dass man das Alte Testament in »Erstes Testament« umbenennen soll. Ich muss aber zugeben, dass ich diese sprachliche Änderung aus verschiedenen Gründen als unbefriedigend betrachte. Wenn ich jetzt eine persönliche Beobachtung machen darf: Als einer, der in seiner frühen Jugend die Sünde einer ersten bzw. Anfängerehe beging, verbinde ich das Wort »Erst« nicht unbedingt mit positiven Gedanken. Dass einer der Hauptverfechter dieser Umbenennung des Alten ins Erste Testament der katholische Theologe Erich Zenger gewesen ist, der – soweit ich informiert bin – weder verheiratet noch geschieden war, sollte uns nicht wundern.10

      Der Islam hat dagegen seine noch spätere Offenbarung damit gerechtfertigt, dass er behauptet hat, die Schriftgrundlagen des Judentums und des Christentums seien korrumpiert, so dass nur die neue Botschaft des Korans anzuerkennen sei.11 Obwohl das Judentum und der Islam, jeder in seiner heiligen Sprache Hebräisch bzw. Arabisch, verwandte Begriffe für ihre heiligen Schriften gebrauchen, nämlich Mikra und Koran, was beides »das Vorgelesene« bedeutet, haben nur das Judentum und das Christentum einen gemeinsamen Text, den beide Religionsgemeinschaften als Bibel bezeichnen. Das gilt, auch wenn sie sich nicht einig sind, wie dieses Wort zu deuten ist und welche Bücher dazugehören. Das Ergebnis ist, dass Juden und Christen unterschiedliche Vorstellungen haben, wenn sie über die Bibel sprechen. Der Begriff »Bibel« ist insofern nicht eindeutig. Was Judentum und Christentum in oberflächlicher Weise verbindet, ist dasselbe, was die zwei Schwesterreligionen auch trennt.

      Als geborener Zyniker darf ich mir vielleicht die Beobachtung erlauben, dass das, was Judentum und Christentum bei der Bibel eigentlich verbindet, der Umstand ist, dass beide Religionen die Bibel – egal wie wir ihren Umfang definieren – als Quelle von Zitaten verwenden, die aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen werden, um vorgegebene theologische Positionen zu begründen. Die Positionen mögen nicht übereinstimmen, aber die Hermeneutik ähnelt sich.

      Ein analoges Problem der Definition begegnet uns, wenn wir über Europa sprechen. Denn was ist Europa, und wie definieren wir es?12 Wie wir alle wissen, leitet Europa seinen Namen von dem Mythos ab, wonach der Götterkönig Zeus in der Gestalt eines Stiers Europa, die Tochter des Königs Agenor von Tyros, entführt haben soll. So kam die Landmasse westlich von Asien und nördlich von Afrika zu dem Namen Europa, auch wenn deren Grenzen lange Zeit nicht eindeutig zu bestimmen waren. Heute verstehen wir unter Europa den westlichen Teil eines Megakontinents, dessen Hauptteil in Asien liegt. Die Grenze zwischen den beiden Erdteilen wird üblicherweise mit den Gebirgsketten des Ural und des Kaukasus gleichgesetzt. Aber was zu Europa gerechnet wird, hat sich im Laufe der Jahrhunderte mehrmals geändert. In der Antike hat man Europa vor allem in dem sozusagen »zivilisierten« griechisch-römisch-christlichen Teil des Kontinents gesehen. Dabei wurde Europa eher als kultureller bzw. religiöser Bereich statt als rein geographischer Begriff verstanden. Doch die Grenzen dieses Bereichs änderten sich, als der Einfluss der griechischen Staaten, des Römischen Reiches und der westlichen bzw. römisch-katholischen Kirche sich ausdehnte. Es ist üblich, Europa mit dem Einflussbereich des Christentums gleichzusetzen, aber auch der Islam hat zu verschiedenen Zeiten auf der Iberischen Halbinsel, im Südosten Europas und in den Balkanländern Fuß gefasst. Während die Bibel die Grundschrift des Christentums und der christlichen Welt darstellt, kann man dasselbe nicht für den Islam behaupten. Andererseits liegt in der modernen Welt der Schwerpunkt des Christentums nicht mehr in seiner europäischen Heimat, sondern in der südlichen Hälfte Afrikas und in Südamerika. Die Verbindung Europas mit der Bibel – oder umgekehrt der Bibel mit Europa – ist in unseren Tagen nicht mehr gültig.13 Aber war sie es je?

      Kehren wir nochmals zur Ausgangsfrage zurück: Ist die Bibel ein europäisches Buch? Im Falle der hebräischen Bibel bzw. des Alten Testaments ist dies, wörtlich genommen, schwer zu behaupten. Zwar gibt es ein paar Bücher des Tanachs, die in hellenistischer Zeit oder unter Einfluss des hellenistischen Gedankenguts verfasst wurden – man denke zum Beispiel an Hiob und Daniel.14 Aber die überwiegende Mehrzahl der Bücher ist ein Erzeugnis des Alten Vorderen Orients und spiegelt dessen facettenreiche Kultur von der Eisenzeit bis in die persische Epoche wider, die mit der Eroberung Alexanders des Großen im späten 4. Jahrhundert vor der Zeitrechnung zu Ende ging.

      Als eindeutiges Beispiel für diese Behauptung kann man auf die ersten Kapitel der Genesis verweisen, die nur vor dem Hintergrund einer Begegnung mit der Literatur des Alten Vorderen Orients verständlich sind. Zwar kann man die Erzählungen der Genesis und anderer biblischer Bücher auch einfach als Geschichten genießen, ohne die altorientalische Literatur zu kennen, und man kann sie sogar theologisch auslegen. Aber erst seit der Entdeckung der altorientalischen Texte und seit der Entschlüsselung der Sprachen aus der weiteren Umwelt der Bibel kennen wir den ursprünglichen Kontext, in dem die Erzählungen und religiösen Aussagen des biblischen Textes zu verstehen sind. Die ersten Kapitel der Genesis sind mit Anspielungen und Reaktionen auf Traditionen durchdrungen, die hauptsächlich aus Mesopotamien bekannt sind. Einflüsse des babylonischen Schöpfungs-Mythos Enuma Elisch, des Gilgamesch-Epos, der Atrachasis-Erzählung und vieler anderer erlauben uns Einsichten in den biblischen Text, die zuvor unvorstellbar waren.

      Unter anderem wissen wir jetzt, dass das vorherrschende – aber nicht einzige – Weltbild der Hebräischen Bibel mehr oder weniger dem der mesopotamischen Kultur geglichen hat; denn beide stellten sich eine Welt vor, die in einer Luftblase inmitten des chaotischen Urwassers verankert ist. Nur die göttliche