Christentum und Europa. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия: Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (VWGTh)
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783374058549
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kann man kaum mehr von einer ausschließlichen und reinen creatio ex nihilo sprechen.15 – Etwas anderes, das unsere Luftblasenwelt vor der Zerstörung schützt, sind die Berge bzw. die Säulen am Ende der Welt, die die Welt verankern und stabilisieren. Die biblische »Feste«, der wir in Genesis 1,6–8 zuerst begegnen, ist die harte Schale, die die Welt vor dem zerstörerischen Wasser abschirmt. Sonne, Mond und Sterne sind Lichter im Himmel, die sich vor dem Hintergrund der Himmelsschale bewegen. Das Bild, das wir so gewinnen, ist uns als Erben der europäischen Kultur fremd. Obwohl wir ein ähnliches Bild bei den Vorsokratikern in Kleinasien finden, ist diese Vorstellung dem Abendland seit dem Aufkommen der Sokratiker unbekannt geblieben. Seither haben andere Weltvorstellungen das europäische Gedankengut beeinflusst. Dies ist nur ein kleines Beispiel, um zu zeigen, dass die Hebräische Bibel zumindest in ihrem Ursprung kein europäisches Buch gewesen ist, obwohl sie von der europäischen bzw. christlichen Welt zu einem solchen gemacht wurde in einem Vorgang, den wir heute vielleicht als kulturelle und religiöse Vereinnahmung bezeichnen würden.

      Analoges kann man vom Neuen Testament nicht behaupten. Obwohl die Mehrzahl der Autoren des Neuen Testaments Juden waren, die im Nahen Osten gelebt haben, war dieser Erdteil zu jener Zeit dem Römischen Reich eingegliedert, auch wenn diese Tatsache andere Juden wiederum zu dem vergeblichen Versuch geführt hat, sich mittels zweier Aufstände 66–70/73 und 132–135 u. Z. von der Oberherrschaft Roms zu befreien. Als literarisches und theologisches Werk, das versucht, die Welt der orientalischen Antike mit der Welt der hellenistisch-römischen Kultur in Einklang zu bringen, kann das Neue Testament als europäisches Buch betrachtet werden. Heutzutage zählt der Nahe Osten nicht mehr zu Europa, aber zu der Zeit, als das Neue Testament verfasst wurde, gehörte er zu dem Kulturkreis, aus dem die europäische Kultur hervorging.

      Da das Christentum bis in die Moderne maßgebend für die europäische Kultur gewesen ist, könnte man behaupten, dass die Grundschrift des Christentums, nämlich das Neue Testament, das europäische Buch schlechthin ist. Weil aber Marcion, der die Hebräische Bibel aus seiner Heiligen Schrift ausscheiden wollte, zum christlichen Häretiker erklärt wurde, hat die Alte Kirche entschieden, auch das sogenannte Alte Testament in griechischer Sprache in ihre Heilige Schrift aufzunehmen. Dies hat dazu geführt, dass der Kontext und die ursprüngliche Bedeutung des Tanachs in der christlichen Kirche gewollt oder ungewollt verloren gingen und der Text nun christologisiert und europäisiert wurde.

      Um nur ein Beispiel dieses Vorgangs zu geben: Wann immer der Text es scheinbar erlaubt – sei es mit einem Plural oder sei es mit der Erwähnung der Zahl drei –, wird die christliche Trinität in den vorchristlichen Tanach hineingelesen. So lesen wir gemäß der Lutherbibel 1984 in Genesis 1,26, dass Gott spricht: »Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei.« Ist dieses »uns« ein pluralis maiestatis oder – wahrscheinlicher – eine Rede an das Himmlische Heer, mit dem Gott sich umgibt? Nach der christologischen Auslegung ist es Gott der Vater, der in diesem Fall Gott den Sohn und den Heiligen Geist anspricht.16 Eine ähnliche Auslegung finden wir in Genesis 18, wo Abraham und Sara von drei himmlischen Wesen in Männergestalt besucht werden. So, wie der mittelalterliche jüdische Kommentator Raschbam, bzw. Rabbi Schmuel ben Meir, diesen theologisch schwierigen Text verstanden hat, ist einer von den Männern Gott selbst – eine ziemlich häretische Bemerkung für einen Theologen, der an einen unsichtbaren Gott geglaubt hat –, die anderen beiden sind wohl als himmlische Boten bzw. Engel zu verstehen. In einer christologischen Lesart hingegen werden die drei Männer wiederum mit Vater, Sohn und Heiligem Geist identifiziert. Aber das bedeutet noch immer nicht eine Europäisierung, außer wir setzen Europa mit dem Christentum gleich.

      Auf dem 2. Ökumenischen Kirchentag in München 2010 beteiligte ich mich an einem Podiumsgespräch mit einem evangelischen (Nürnberger Regionalbischof Dr. Stefan Ark Nitsche) und einem katholischen (Stiftsbibliothekar P. Dr. Stefan Dörner OSB) Kollegen. Am Ende des Gesprächs hat man den Protestanten gefragt, was er am Katholizismus schätze. Den Katholiken hat man gefragt, was er am Protestantismus schätze. Und mich hat man gefragt, was ich am Christentum schätze. – Wohlgemerkt: Keiner wurde gefragt, was er am Judentum schätze! – Ich antwortete, dass ich mir mein Leben ohne den christlichen Beitrag zur Kunst, Musik, Literatur usw. nicht vorstellen kann. Denn diese Errungenschaften drücken die höchsten Ideale des menschlichen Geistes aus.

      Obwohl die Darstellung neutestamentlicher Themen immer Vorrang hatte, gibt es doch einen unübersehbaren Reichtum an künstlerischen Ausdeutungen der Erzählungen, Gestalten und Themen der Hebräischen Bibel in der europäischen Kunst im breitesten Sinne. Diese Kunstwerke, ob Gemälde, Zeichnungen, Plastiken, Opern oder Oratorien, zeigen, wie zentral die Bibel für die europäische Kultur ist.17 Sie bieten uns eine europäisierende Auslegungsgeschichte des biblischen Textes. Als Beispiel aus der bildenden Kunst kann man erstens die Beobachtung geltend machen, dass bis ins 19. Jahrhundert die Welt der Bibel und die biblischen Gestalten mehr oder weniger als Europäer dargestellt wurden. Natürlich gehört es zur universalen Gültigkeit des Textes, dass Menschen ihn so ins Bild setzen, wie es ihren eigenen Erfahrungen und ihrer eigenen Weltsicht entspricht. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Bilder zur Bibel zum Beispiel in Afrika oder Asien entschieden anders aussehen als in Europa. Nichtsdestoweniger sind auch diese Ausnahmen von der europäischen Regel ein Ergebnis der Ausbreitung der europäischen Kultur und des Christentums in alle Welt durch den Kolonialismus. Erst als die Welt der Bibel im neunzehnten Jahrhundert durch die Archäologie erschlossen wurde, konnte man zumindest in Bezug auf die Realien endlich etwas realistischer sein.

      Abb. 2. Eine öffentliche Veranstaltung während des 2. Ökumenischen Kirchentags München 2010.

      Die europäische Weltsicht kehrt auch in Inszenierungen von Opern und Theaterstücken wieder, in denen die alten Israeliten vorkommen. Anstatt eine Wiedergabe der historischen Realität anzustreben, werden die Ahnen der Juden des Öfteren in modernen Inszenierungen mehr oder minder als osteuropäische Juden des neunzehnten Jahrhunderts dargestellt. Ich überlasse den Nachfolgern von Sigmund Freud die Deutung, wie diese Romantisierung einer ermordeten Welt auszulegen ist. Auf jeden Fall kann man auch diese Tendenz als einen Versuch verstehen, die Bibel zu europäisieren.

      Ab dem Sommer 2017 gibt es in den Vereinigten Staaten eine Welle des Ikonoklasmus. Angefangen hat diese Bewegung damit, die Denkmäler der Heroen der Südstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg zu beseitigen, doch inzwischen ist man bei George Washington und Thomas Jefferson angelangt, zwei der ersten und wichtigsten Präsidenten, die als Mitglieder der wohlhabenden Elite ihrer Zeit auch Sklavenbesitzer waren, nicht zu reden von Christoph Kolumbus, dessen Entdeckung Amerikas im Laufe der Jahrhunderte für die Ureinwohner des Kontinents gravierende Konsequenzen gehabt hat. Auch in Kanada waren wir sogar im kanadischen Jubiläumsjahr 2017 von diesem ikonoklastischen Wahn unserer südlichen Nachbarn betroffen. Eine der wichtigsten Gestalten der kanadischen Geschichte ist der Staatsgründer und erste Ministerpräsident Sir John A. Macdonald (1815–1891) gewesen. Aber da er im Einklang mit seiner Zeit und Gesellschaft sich in einer Weise geäußert hat, die wir heute als rassistisch betrachten würden, gibt es jetzt eine Bewegung, die vielen Standbilder zu seinen Ehren niederzureißen und die vielen Schulen, die seinen Namen tragen, umzubenennen.

      Aber es sind nicht nur die eigenen Landsleute, die heutzutage angegriffen werden. Ohne Zweifel kennen alle evangelischen Theologinnen und Theologen das berühmte Lutherdenkmal in Worms, das ich fast gezwungen war, im Rahmen meines Vortrags im Lutherjahr zu erwähnen.18 Aber wie alle Menschen hatte auch Luther seine dunklen Seiten. Nachdem sein Versuch, die Juden für seine reformierte Fassung des Christentums zu gewinnen, gescheitert war, hat er sich in Schriften wie »Von den Juden und ihren Lügen« gegen sie gewandt.19 Aber zurück zum Denkmal: Eine Kopie des Standbildes Luthers steht in Washington vor einer evangelischen Kirche, die Luthers Namen trägt. Es ist mir peinlich, das zu berichten, aber auch dieses Standbild in Washington wurde zuletzt von einer ikonoklastischen jüdischen Journalistin angegriffen.20 Also gehört auch sie zu denen, die die Geschichte der Menschheit von jedem kleinen Makel reinigen wollen, bis die menschliche Vergangenheit vollkommen ausgelöscht ist – ein furchterregender Gedanke! Anscheinend hat sie nie den Spruch eines ziemlich bekannten Juden gehört, der vor zwei Jahrtausenden lebte: »Wer unter euch ohne Sünde ist, der