„In der Tat.“
„Warum?“
„Er hat mir mit den Hausaufgaben geholfen.“ Emerson schob seinen Ordner auf die leere Stelle neben ihm auf dem Tisch. „Schau es dir an. Der Russe kennt sich in Mathe aus.“
Olga kicherte und murmelte auf Russisch: „Der Russe. Ich mag das. Der Junge hat Eier, genau wie seine Mutter.“
Sergei hielt sein Lächeln zurück, allerdings nur knapp. Er hatte schon die Vermutung gehabt, dass Olgas Sturheit Evette gegenüber eher Show als tatsächlich ein territoriales Verhalten gewesen war, und mit dieser kleinen Bemerkung hatte sie ihn darin bestätigt.
Evette ging zu dem Hochtisch und prüfte die Aufgaben ihres Jungen. Sobald sie zufrieden war, schloss sie die Mappe und begegnete Sergeis Blick. „Danke.“
„Das habe ich gerne gemacht.“
Sie nahm den Ordner auf und wollte ihn gerade an Emerson zurückgeben, als sie ein gefaltetes goldenes Blatt Papier zwischen den Seiten entdeckte. Sie zupfte es hervor und öffnete es. „Was ist das?“
Emerson schnappte es ihr weg. „Es ist nichts.“
„Es ist nicht nichts, wenn ich es nicht lesen kann.“ Evette nahm es wieder zurück, faltete es auseinander und überflog die Zeilen, die darauf standen. Eine Sekunde später wurde ihr Gesichtsausdruck ganz weich und sie hob ihren Blick zu Emerson. „Ein Vater- und Freunde-Frühstück?“
„Die sind doof.“ Emerson zog das Papier aus Evettes lockeren Fingern und legte es beiseite. „Es geht sowieso kaum jemand da hin. Ist keine große Sache.“
Aber es war eine große Sache. Und nach Evettes Gesichtsausdruck zu urteilen, war es das auch schon bei vielen anderen Gelegenheiten gewesen. „Du könntest deinen Onkel Carl bitten, mitzugehen.“
„Nein.“ Emerson stapelte sein Lehrbuch auf seinen Ordner und hüpfte vom Hochstuhl. „Das letzte Mal, als wir das versucht haben, konnte ich für Wochen keinem mehr ins Gesicht sehen.“
„Wer ist Onkel Carl?“, frage Sergei.
„Der Bruder meines Vaters“, antwortete Evette mit einem verzweifelten Seufzen. Sie folgte Emerson, der bereits zur Hintertür gegangen war. Die Tür führte zum Hinterhof und zum Kutscherhaus dahinter. „Emerson, achte auf deine Manieren und sag Mr. Petrovyh Gute Nacht.“
Emerson blieb an der Hintertür stehen und sah Sergei mit einem Stirnrunzeln an, das seine Züge noch mehr trübte. „Vielen Dank für Ihre Hilfe. Und für die Kekse. Beziehungsweise das Teegebäck. Oder wie auch immer die genannt werden. Tut mir leid, dass ich übellaunig geworden bin.“
„Mathe kann das bei Menschen bewirken“, sagte Sergei. Er nickte ihm zum Abschied zu und konzentrierte sich dann auf Evette. „Das nächste Mal, wenn Ihr Sohn Hilfe braucht, kann mein Haus warten.“
Es war das erste offene Lächeln, das sie ihm schenkte, seit – nun ja, vielleicht seit dem Tag, an dem sie sich an seinen Tisch bei Dorothy‘s gesetzt hatte. „Danke schön.“ Sie schubste Emerson nach draußen und winkte Olga zum Abschied. „Ich sehe Sie beide dann morgen früh.“
Und mit diesen Worten waren die zwei verschwunden und hinterließen eine unangenehme Stille in der Küche.
Olga legte ihre gefaltete Schütze auf der Kücheninsel ab und schlenderte zur Tür, die zu ihren Privaträumen führte. „Ich ruhe mich aus. Das Abendessen wird in einer Stunde fertig sein.“
Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern ließ Sergei einfach mit seinen Gedanken und der nachklingenden Energie des Jungen und seiner Feenmutter allein.
Fast mittig auf dem Tisch lag das zusammengefaltete goldene Blatt Papier.
Sergei hob es auf und las es.
Väter- und Freunde-Frühstück
8:00 Uhr, 26. Oktober
Aus irgendeinem unerklärlichen Grund holte ihn erneut die Erinnerung ein an Evettes offenes Lächeln, bevor sie durch die Hintertür verschwunden war, gefolgt von der schieren Verwunderung auf ihrem Gesicht, als sie erfahren hatte, dass er Emerson bei den Matheaufgaben geholfen hatte.
Endlich hatte auch er einen Vorgeschmack, allerdings nur einen kleinen, auf die Leichtigkeit und Zärtlichkeit bekommen, die sich alle anderen in seinem Haushalt bis auf Olga verdient hatten.
Er mochte es.
Sehr sogar.
Er faltete das Papier einmal der Länge nach, steckte es in die Brusttasche seiner Anzugjacke und schlenderte zurück zu seinem Büro. Auf die eine oder andere Weise würde er einen Weg finden, noch mehr als dieses Lächeln zu verdienen.
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