Er ist nicht an der Schule interessiert. Er ist hier, um einen Standpunkt klarzumachen. Einen sehr starken und unmissverständlichen.
Deswegen war die Dekanin da, um sie zu begrüßen. Das war also der Grund dafür, warum Emersons Unterlagen sofort bearbeitet worden waren und warum seine Lehrerin persönlich gekommen war, um ihn in sein neues Klassenzimmer zu begleiten.
Sie stand verblüfft vor dem Fenster und konnte sich nicht entscheiden, ob sie sich nun über diese beschützende Geste freuen oder eher wütend über den Ärger sein sollte, den es für ihren Sohn bedeuten könnte, wenn die anderen Kinder davon Wind bekämen.
Vielleicht beides.
Sergei drehte sich um und ihre Blicke kreuzten sich.
Um herauszufinden, weshalb sie seine Aufmerksamkeit verloren hatte, sah Dekanin Benedict in Sergeis Blickrichtung, strahlte Evette mit einem entzückten Lächeln an und eilte schnell auf sie zu.
Die Verabschiedung war kurz und im Wesentlichen eine Wiederholung der Begrüßung, die sie erhalten hatte.
Wir freuen uns, Sie und Ihren Sohn bei uns zu haben.
Wir sind immer für Sie da, wenn Sie etwas brauchen.
Sollten Sie Hilfe benötigen, rufen Sie uns jederzeit an oder kommen Sie vorbei.
Diese Gesprächsfetzen mischten sich mit kräftigem Händeschütteln und einer persönlichen Eskorte zurück zum Kreisel und zu Sergeis wartenden Wagen.
Evette bekam von all dem kaum etwas mit. Sergeis Präsenz in ihrem Rücken war ihr zu sehr bewusst. Ganz besonders, als er besitzergreifend den Arm um Evies Schulter legte und der Dekanin die Hand schüttelte. „Es scheint so, als ob Sie eine sehr gute Schule leiten würden, Ms. Benedict.“ Sein scharfsinniger Blick richtete sich auf den Sicherheitsmann, der mit ihnen nach draußen gegangen war, und kehrte dann zur Dekanin zurück. „Es ist gut, zu wissen, dass Emerson an einem Ort ist, an dem Sicherheit und Bildung im Fokus stehen.“
Dekanin Benedict bemerkte Sergeis Arm um Evies Schulter, und das bereits megawattstarke Lächeln auf ihrem Gesicht strahlte noch heller. „Oh ja. Ein sicheres Umfeld ist entscheidend für eine qualitativ hochwertige Bildung. Ich garantiere Ihnen, dass unsere Schüler hier jederzeit sicher sind.“
„Gut.“ Sergeis Hand glitt an Evies Wirbelsäule hinab, ruhte nun an ihrem unteren Rücken und zerstreute das, was von ihrem Verstand noch übrig geblieben war. „Jetzt lassen wir Sie wieder an Ihre Arbeit gehen. Danke, dass Sie uns heute persönlich hier willkommen geheißen haben.“
„Natürlich, es war uns eine Freude.“
Das Einsteigen in den Wagen geschah wie in Trance. Sergeis verweilende Berührung sickerte bis zum letzten Augenblick so massiv wie ein Opiat in ihren Blutkreislauf ein. Als er auf den Rücksitz neben sie rutschte, war er immer noch so nah bei ihr. So nah, dass ihr Körper regelrecht darum bettelte, ihren Schenkel die wenigen Zentimeter zu seinem überbrücken zu lassen, um Kontakt herzustellen.
Es brauchte ein paar Straßen und einige ruhige Atemzüge, um wieder zu sich zu kommen und ihre Stimme wiederzufinden. „Was ist hier los?“
Ein langes Schweigen herrschte zwischen ihnen, bevor er redete. „Das sagte ich Ihnen bereits, Ms. Labadie. Diejenigen, die sich in meiner Umgebung aufhalten, sind unantastbar. Ich halte es für besser, meine Erwartungen frühzeitig und klar zu kommunizieren, sodass es keine falschen Annahmen oder Möglichkeiten für Fehlinterpretationen geben kann.“
Sie hatte also richtig gelegen. Er hatte eine Botschaft geschickt. Nur wusste sie nicht genau, welche Art von Botschaft es war. „Als ich den Antrag ausgefüllt habe, habe ich der Dekanin mitgeteilt, dass ich für Sie arbeite.“
„Und sie weiß, dass es wahr ist, weil ich es heute bestätigt habe.“ Er hielt lange genug inne, um sie wieder anzusehen. „Ich habe damit aber auch klargestellt, dass ich Sie und Emerson als Familie betrachte und Sie als solche unter meinem Schutz stehen.“
Familie.
Das war es, was die Berührung und das Getue bedeutet hatten. Eine persönliche Darbietung, die für ihre und Emersons Sicherheit sorgen sollte. Nicht mehr und nicht weniger.
Und doch, dieses Wort allein schlug eine mächtige Saite in ihr an. Ein Lied, das mit mehr Nachhall gefüllt war, als sie seit Langem gespürt hatte. Abgesehen von den Gesprächen mit Dorothy und den paar wenigen unerwünschten Besuchen ihres Onkels gab es nur noch Emerson und sie. Zuvor waren es einzig sie und ihre Mutter gewesen, die den Unfalltod ihres Vaters betrauert hatten, als Evie fünfzehn Jahre alt gewesen war.
Sie erwiderte seinen festen Blick. Die Tiefe seiner blauen Iriden war ebenso geheimnisvoll und dekadent wie ein mondheller Mitternachtshimmel. Ja, er war ein Raubtier. Ein Wolf, der kaum von der menschlichen Haut verborgen blieb. Aber sie spürte auch noch etwas anderes darunter.
Eine verlorene Seele.
Eine, die ebenso verletzlich war, wie die jedes anderen.
Das Vibrieren ihres Handys in ihrer Gesäßtasche riss sie aus ihren Gedanken. Sie zuckte mit den Achseln, senkte ihren Blick und gab ihren Pin ein.
Onkel Carl: Wo steckst du? Ich war gerade bei deiner Wohnung und dein Vermieter hat gesagt, ihr seid weggezogen. Du kannst nicht einfach umziehen und deiner Familie nicht sagen, wo du bist.
Ähm, ja, und ob sie das konnte. Und wenn es nach ihr ginge, würde sie die Zeit vor einem Besuch von Onkel Carl hinauszögern, so lange es möglich war. Sie hatte sich in seiner Nähe nie wohlgefühlt. Obwohl Emerson nichts davon gesagt hatte, war sie sich sicher, dass er genauso empfand. Aber ein Zusammentreffen, bei dem Onkel Carl Sergei begegnen könnte?
Sie schauderte und tippte eine Antwort.
Yep. Hatte nur keine Zeit, zu texten. Kann nicht reden. Bin auf der Arbeit. Sende später Informationen.
Das war nicht gerade eine langfristige Lösung, aber sie dachte, sie könnte für ein oder zwei Tage vergessen, nähere Informationen zu schicken. Jedenfalls würde es ihr genug Zeit geben, einen besseren Grund zu finden, um ihn auf Distanz zu halten.
Sie steckte ihr Handy zurück in die Gesäßtasche, sah auf und bemerkte Sergeis missmutigen Blick.
„Alles in Ordnung, feya?“
Nun, es wäre besser, wenn er nicht so nah bei ihr wäre, dass sie ihn hätte berühren können. Wirklich, der Mann hatte echt keine Ahnung wie sich eine raue, tiefe Stimme auf eine Frau auswirken konnte. „Mir geht es gut.“ Sie tat ganz gleichgültig, so, als ob sie die vorbeiziehende Szenerie in sich aufnähme. „Bloß Familienkram.“
Zwar konnte sie ihn während ihrer vorgetäuschten Beobachtung der Nachbarschaft nicht direkt sehen, aber sie spürte seinen Blick.
„Ms. Labadie.“ Er sagte nichts weiter, was bedeutete, dass er darauf wartete, dass sie seinen Blick erwiderte, bevor er fortfahren würde.
Sie atmete tief ein, hob ihr Kinn und gab ihm, was er wollte, sah ihn mit erhobenen Augenbrauen an.
„Erinnern Sie sich, was ich Ihnen sagte!“, begann er. „Diejenigen, die für mich arbeiten, sind unantastbar. Sollte Ihnen also jemand Sorgen bereiten, erwarte ich, dass Sie diese Sorge sofort mit mir teilen.“
Oh, oh. Es wäre definitiv keine gute Idee, Onkel Carl in nächster Zeit auf Sergei treffen zulassen. Wenn es ihr sogar schwerfiel, zu verbergen, wie unangenehm allein Nachrichten von Onkel Carl waren, wäre es unmöglich, dies zu überspielen, wenn er leibhaftig vor ihr stünde. Und sie wurde das Gefühl nicht los, dass Sergei alles mitbekam, was sich in seiner Umgebung abspielte.
Sie kreuzte die Arme mit so viel Frechheit, wie sie aufbringen konnte – und das war eine Menge – und starrte entschlossen aus dem Fenster. „Glasklar, Mr. Petrovyh. In der Tat, glasklar.“