Um für die Wirkmacht von Erfahrungskrisen zu sensibilisieren und der Abkoppelung von Lehren und der von Rumpf beschriebenen Dekontextualisierung des Lernens im Unterricht entgegenzuwirken, versucht der hier vertretene phänomenologisch orientierte Ansatz über das Begriffspaar lehrseits und lernseits (vgl. Schratz 2019) im Hinblick auf den eingangs von Rose skizzierten Sinn von Schule den pädagogischen Bezug im Blick zu behalten. Lernseits setzt immer ein lehrseits voraus, da Lernen „in pädagogischer Perspektive und in strengem Sinne eine Erfahrung“ (Meyer-Drawe 2008, S. 15) ist, in welche Lehrende wie Lernende in gleicher Weise verstrickt sind. Das Begriffspaar soll diese Verstricktheit ausdrücken, da es sich „der Alternative von Kausalität und Intentionalität in all ihren traditonellen Formen entzieht“ (Waldenfels 2006, S. 43).
Die Bezeichnung der Begriffskombination entspringt einer räumlichen Metapher, die auf die Bestimmungsmerkmale diesseits und jenseits anspielt, um das aufzuzeigen, was im Unterricht als subjektives Ereignis für jeden Einzelnen – für Lehrpersonen ebenso wie für Schüler*innen – geschieht. Lernseits führt das Augenmerk über das Unterrichtsgeschehen hinaus, um die Jenseitigkeit der Erfahrungen anderer aufzuzeigen und verlangt außerdem nach übergeordneter pädagogischer Verantwortung für gelebte (Welt-)Erfahrungen. Die Auswirkungen des lehr-lernseitigen Geschehens auf die persönliche Entwicklung lassen sich allerdings nicht kurzfristig über Prüfungsverfahren im Unterricht feststellen, sondern zeigen sich erst im längerfristigen Erfahrungsbezug. Das soll an zwei Beispielen aufgezeigt werden.
Die folgende Schilderung der persönlichen Erinnerungen an die Schulzeit einer Gymnasiallehrerin, die als Flüchtlingskind nach Österreich gekommen war, bringt die Wirkmacht von Lehren im lernseitigen Modus eindrücklich zum Ausdruck.
„Wenn man ‚erfolgreiche‘ Migrantinnen wie mich hernimmt, stellt man schnell fest, dass wir es oft ‚trotz‘ konservativer Eltern geschafft haben. Meist dank einer engagierten Lehrperson, die an uns geglaubt hat. Bei mir war es meine Volksschullehrerin, ihretwegen liebte ich die Schule und sollte sie auch die weiteren zwölf Jahre lieben, auch wenn ich da nicht immer nur so großartige Lehrpersonen hatte. Ich hatte keine leichte Kindheit und Jugend, die Schule war für mich ein Zufluchtsort, und die Frau Lehrerin mit ihrer sanften Art machte mein Leben weicher. Sie fragte mich nie nach meinem Elternhaus aus, nach meiner Herkunft oder meinem Glauben, sie fragte stattdessen, welche Bücher sie uns vorlesen sollte, schrieb motivierende Zeilen unter meine Hausübung und lobte viel – dank ihr war die Schule mein ‚safe space‘. Sie hätte auch fragen können, wieso mein Vater nie in die Schule kommt, was ich so im islamischen Religionsunterricht lerne und ob ich mich nicht lieber auf Deutsch konzentrieren sollte, statt in den bosnischen Muttersprachenunterricht zu gehen, aber sie stülpte mir diese Rolle nicht über, das hätte mich komplett überfordert. So wie Jahre später, als mich Lehrer fragten, ob mir mein Vater verbiete, auf Projekttage mitzukommen. Ich bejahte, ich würde ihnen sicher nicht die Wahrheit sagen, dass meine Eltern nichts von den Projekttagen wussten, weil ich ein schlechtes Gewissen gehabt hatte, sie um Geld zu bitten. Ein Großteil der muslimischen Kinder in Wien gehört zu den Bildungsverlierern, aber nicht, weil sie islamische Eltern haben, sondern weil das Schulsystem sie im Stich lässt.“ (Erkurt 2020, S. 9)
In der Tiefenstruktur der rückblickenden Unterrichtserfahrungen zeigt sich nicht der in Abb. 1 dargestellte I-R-E-Dreischritt. Die Lehrerin erwartete nicht richtige Antworten auf die Lehrerfrage, um sie nach dem Grad der erwarteten Präzision zu bewerten. Sie verfiel auch nicht der Obszönität des Fragens (vgl. Bodenheimer 2011) nach Elternhaus, Herkunft und Glauben, sondern hat unvoreingenommen an die Schüler*innen geglaubt. Ihr Verhalten entspricht dem, was Klafki (2002) „pädagogisches Verstehen“ nennt, nämlich die ihr
„anvertrauten Kinder und Jugendlichen jeweils neu in ihrer subjektiven Situation, mit ihren Voraussetzungen und Erfahrungen, Interessen, Schwierigkeiten und Nöten, im Zusammenhang ihrer Sozialisationskontexte und in den von den jungen Menschen gesetzten Bedeutungsakzenten zu verstehen versuchen, also hinsichtlich dessen, was die Jugendlichen als für sich selbst wichtig betrachten.“ (Klaffki 2002, S. 178)
Das Kennenlernen der (Lese-)Interessen ihrer Schüler*innen half der Lehrerin beim pädagogischen Verstehen, wodurch sich neue Möglichkeitsräume für die Erschließung von Sach- und Weltbezügen eröffneten. Die Lehrerin trug dazu bei, dass Melissa, die Schülerin, sich in der Schule sicher fühlte, was für Riley/Coate/Martinez (2018) eine Voraussetzung für förderliche Sozialisation und Subjektwerdung darstellt:
„‚Zugehörigkeit‘ ist dieses Gefühl des Irgendwo-Seins, wo man zuversichtlich sein kann, dazuzugehören und sich in der eigenen Identität sicher zu fühlen. […] Jede Schule hat Verantwortung für die Kinder und Jugendlichen, die ihre Tore betreten. Sie beeinflusst, wie die jungen Menschen die Welt verstehen. Schulen verändern sich ständig wie Kaleidoskope von Menschen, Ideen und Haltungen, die das Potenzial haben sich um gemeinsame Überzeugungen zusammenschließen und Absprachen zu treffen. In der heutigen Welt, in der neue Ideen genauso leicht auf Treibsand wie auf festem Boden gebaut werden, sind Schulen nicht nur wichtige Informationszentren, sondern auch eine der wenigen gemeinsamen gesellschaftlichen Institutionen, die einen Sinn der Zugehörigkeit oder des Ausschlusses schaffen können.“ (S. 3; Übers. M.S.)
Es sind die persönlichen Erfahrungen der Schüler*innen, die deren Bildungserfolg bestimmen, denn
„[e]chtes Lernen berührt den Kern unserer menschlichen Existenz. Lernen heißt, daß wir uns selbst neu erschaffen. Lernen heißt, daß wir neue Fähigkeiten erwerben, die uns vorher fremd waren. Lernen heißt, daß wir die Welt und unsere Beziehung zu ihr mit anderen Augen wahrnehmen. Lernen heißt, daß wir unsere kreative Kraft entfalten, unsere Fähigkeit, am lebendigen Schöpfungsprozeß teilzunehmen.“ (Senge 1996, S. 24)
Daher ist für eine lernseitige Orientierung die Lenkung der Aufmerksamkeit auf die entstehende Zukunft bedeutsam (Scharmer 2007). Die Öffnung des Lernens auf die entstehende Zukunft erfordert eine Offenheit, die nicht nur kognitiv wirksam wird, sondern eine ganzheitliche, damit auch leibliche Erfahrung ist. So kann nach Bachelard (1990, S. 33) auch ein kleines Ereignis im Leben eines Kindes ein besonderes Ereignis in der Welt dieses Kindes und dadurch ein „Weltereignis“ sein. Im Sinne eines responsiven Geschehens entspricht es „einem höchst fragilen Ereignis, nämlich dem Moment, in dem Sinn entsteht“ (Meyer-Drawe 2010, S. 7) und kann als menschliche Gesamtleistung bildenden Charakter haben. Daher ist Lernen auch ein sehr intimer und damit auch verletzlicher Vorgang, denn das, was man bisher kannte und konnte, trägt nicht mehr richtig, aber das Neue ist noch nicht stabil und gibt noch nicht wirklich Halt.
Pädagogisches Verstehen ist aus lernseitiger Haltung nicht auf das Verstehen eines spezifischen fachlichen Inhalts bezogen, sondern übergreift Unterricht, Schulleben und deren institutionelle Rahmenbedingungen. Aufgrund der vielseitigen Anforderungen in dieser komplexen Ausgangssituation gibt es für das pädagogische Handeln keine einfache Antwort im Sinne von richtig oder falsch, Bildungsprozesse aus der Perspektive einer unbekannten Zukunft zu modellieren. Ein Beispiel für diese lernseitige Haltung im Unterrichtsgeschehen schildert Henisch (2020) in seinem Nachruf anlässlich des Todes seines Religionslehrers:
„Seit damals, als er zum ersten Mal zur Tür unserer Schulklasse hereingekommen ist, eine Realschulklasse in Wien Favoriten. Der neue Religionslehrer, ein schmaler, junger Mann, der schon auf den ersten Blick anders wirkte als seine Vorgänger. Seine Vorgänger hatten uns nichts zu sagen gehabt. Wir hatten die Zeit, in der sie uns nichts sagten, genutzt, um unter der Bank Hausübungen für Fächer zu schreiben, die für wichtiger galten als Religion. Als Holl kam, wurde das anders. Er hatte uns etwas zu sagen. Obwohl, oder gerade weil er mehr Fragen hatte als Antworten. Über Gott und die Welt, über die ersten und die letzten Dinge. Es gelang ihm, die Lust am Denken zu wecken, auch und vor allem widersprüchlichen Denken. Und die Freude am Diskutieren. Als wir einmal damit angefangen hatten, wollten wir gar nicht mehr damit aufhören.“ (2020, S. 33)
Diese rückblickende Würdigung des Lehrers lässt jene wirkmächtigen Erfahrungen erkennen, die Lehrende im responsiven Geschehen mit den Lernenden machen, wenn sie über das gegenseitige Verstehen in Beziehung zu dem treten, was Sache ist. In einer lernseitigen Perspektive