Im deutschsprachigen Raum sieht Fend den schulischen Auftrag darin, „jene Merkmale in Heranwachsenden zu erzeugen (Qualifikationen und Orientierungen), ohne die das Individuum nicht handlungsfähig und die Gesellschaft in der bestehenden oder in veränderter Form nicht überlebensfähig wäre“ (1980, S. 6). Zur Umsetzung dieses gesellschaftlichen Auftrags geben die politisch Verantwortlichen (Ministerien) die erforderlichen Ziele vor, die auf der jeweiligen Schulstufe erreicht werden sollen. Bei deren Formulierung geht es einerseits um die Vermittlung der erforderlichen Qualifikationen, aber auch um die Erreichung entsprechender Erziehungsziele, welche die staatsbürgerliche Verantwortung des Einzelnen sowie die Mitverantwortung für das Gemeinwesen sicherstellen sollen. § 1 des Schulgesetzes für das Land Berlin dient hier stellvertretend als Beispiel dafür.
§ 1 Auftrag der Schule „Auftrag der Schule ist es, alle wertvollen Anlagen der Schülerinnen und Schüler zur vollen Entfaltung zu bringen und ihnen ein Höchstmaß an Urteilskraft, gründliches Wissen und Können zu vermitteln. Ziel muss die Heranbildung von Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegenzutreten sowie das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde, der Gleichstellung der Geschlechter und im Einklang mit Natur und Umwelt zu gestalten. Diese Persönlichkeiten müssen sich der Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit bewusst sein, und ihre Haltung muss bestimmt werden von der Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen, von der Achtung vor jeder ehrlichen Überzeugung und von der Anerkennung der Notwendigkeit einer fortschrittlichen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse sowie einer friedlichen Verständigung der Völker. Dabei sollen die Antike, das Christentum und die für die Entwicklung zum Humanismus, zur Freiheit und zur Demokratie wesentlichen gesellschaftlichen Bewegungen ihren Platz finden.“ |
Schulgesetz für das Land Berlin (2004)
Mit derartigen gesetzlichen Vorgaben erhält jede Schule im jeweils sozialgeschichtlich geprägten Kontext der politischen Kultur (Seashore Louis/van Velzen 2012) den staatlichen Bildungsauftrag, dessen Umsetzung und Konkretisierung über entsprechende Verordnungen (Lehrpläne, Erlasse etc.) erfolgt. Lehrpläne beinhalten zunächst die Konkretisierung des Erziehungsauftrags der Schule, ehe Hinweise für die Planung und Durchführung des Unterrichts in inhaltlicher und in methodischer Hinsicht erfolgen. Im Bildungsauftrag finden sich das Grundverständnis von Schule und die davon abgeleiteten pädagogischen Leitideen bzw. allgemeinen didaktischen Grundsätze, wodurch Verantwortlichkeiten und Freiräume bei der Umsetzung des Lehrplans vorgegeben werden.
Erziehungs- und Bildungsziele lassen sich nicht ohne weiteres trennen, weshalb sie im schulischen Unterricht gleichzeitig umgesetzt werden (müssen), allerdings unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken unterliegen. Biesta (2012, S. 13) unterscheidet diesbezüglich zwischen drei Bildungszielen, über deren Gewichtung Lehrerinnen und Lehrer im jeweiligen Unterrichtskontext situativ und perspektivisch zu entscheiden haben (siehe Abb. 1).11
Erziehungs-/Bildungsziele | Funktion | Domänen |
Qualifizierung | Menschen mit Wissen, Fähigkeiten und Haltungen befähigen | Wissen, Fertigkeiten, Haltungen, Werte |
Sozialisierung | Einführung von „Neuen”1 in eine bestehende Ordnung | Inklusion; demokratische Werte; Zusammenleben |
Subjektwerdung | Wahrnehmung menschlicher Freiheit | Agency – Bewusstheit über die eigene Wirkmächtigkeit |
Abb.1: Erziehungs- und Bildungsziele nach Biesta (2012, S. 13)
Wie am Beispiel Berlins aufgezeigt wurde, stehen im gesetzlichen Auftrag von Schule der einzelne Mensch (Subjektwerdung) und das gesellschaftliche Miteinander (Sozialisierung) im Vordergrund, um einerseits die Freiheit der Einzelnen sowie andererseits das demokratische Zusammenleben im Hinblick auf ihr künftiges Wohlergehen (Well-being) sicherzustellen. In den Lehrplänen hingegen sind – auch vom Umfang her – die jahrgangsmäßig ausdifferenzierten Ziele und Inhalte bestimmend, die über entsprechende Überprüfungsverfahren (Hausaufgaben, Klassenarbeiten, Prüfungen, Tests u. a.m.) die Qualifizierung sicherstellen sollen.
Die politischen Debatten zur Qualität von Schule und Unterricht werden in den einzelnen Bildungssystemen sowohl global über sog. large scale assessments (z. B. PISA, TIMSS) als auch national (Vergleichsarbeiten, zentralisierte Reifeprüfungen) geführt. In der Umsetzung der Lehrplanvorgaben kommt es dadurch allerdings zu einer Diskrepanz zwischen Bildungszielen und schulischer Realität, was Krathwohl u. a. (1975, S. 15) mit folgender Hypothese erfasst haben: Obwohl Ziele des affektiven Bereichs bei der Legitimation von Bildungszielen eine hervorragende Stelle einnehmen, erfahren sie auf dem Weg der Konkretisierung über die Lehrpläne bis in den Unterricht eine merkwürdige Erosion. Diesen Erosionsprozess haben Posch/Thonhauser (1982) insbesondere auch für den deutschen Sprachraum aufgezeigt. In dieser Hinsicht argumentiert auch Helmke (2009), ein herausragender Vertreter der empirischen Bildungsforschung: „Unterricht wird ja nicht von Variablen veranstaltet, sondern von Personen, die jeweils ein individuelles Gesamtmuster unterschiedlicher Facetten repräsentieren. Diese personale Ganzheit gerät leicht aus dem Blickfeld.“ (S. 26)
Demgegenüber erhalten die übergeordneten Ziele des Erziehungs- und Bildungsauftrags von Schule, vor allem was die Subjektwerdung und Sozialisierung in der Umsetzung der Lehrpläne anbelangt, sowohl in der Forschung als auch in der Politik geringere Aufmerksamkeit und werden eher dem heimlichen Lehrplan (Zinnecker 1975) überlassen. Wenn Schule ein Ort sein soll, der die Bewusstheit jedes Menschen über seine eigene Wirkmacht und das Zusammenlegen aller in demokratischer Form erfahrbar macht, sind an der Schule wichtige Voraussetzungen erforderlich, damit Kinder und Jugendliche zur Welt und sich selbst in ein verstehendes Verhältnis treten können. Hierzu stellt sich die Frage, wie Schulen als Bildungseinrichtungen jene Erfahrungsräume schaffen können, die über pädagogische Interventionen „Berührungsflächen zwischen Ich und Gegenstand“ (Gebhard/Combe 2007, S. 89) gestalten, damit die Schüler*innen sich die im schulischen Auftrag formulierten Zielvorstellungen aneignen können.
Im Hinblick auf die Auswirkungen schulischer Erfahrungen interessiert in diesem Beitrag die Frage nach möglichen Gründen für die Erosion der pathischen Dimension von Bildungs- und Erziehungszielen in der Umsetzung von Lehrplänen, die Rumpf (1994, S. 8) „der entsinnlichenden Dynamik des Schullernens“ zuschreibt. Dazu setze ich mich zunächst mit den Tiefenstrukturen lehrseitiger Vermittlungsprozesse auseinander und zeige anhand beispielhafter Erfahrungen aus Schule und Unterricht, wie pädagogisches Verstehen in einer lernseitigen Orientierung zu einem ganzheitlichen Bildungsverständnis beitragen kann. Abschließend gehe ich anhand eines aktuellen Beispiels der Frage von Combe/Gebhard (2007) nach, ob „der Anspruch, Lernen mit Erfahrung zu verknüpfen und auf Erfahrung anzulegen, in der Schule überhaupt eingelöst werden kann“ (S. 7).
2. Die Wirkmacht der Tiefenstrukturen von Unterricht
Erfahrungen im schulischen Kontext sind aufgrund der staatlichen Vorgaben für die Lehrenden und Lernenden über die Lehrpläne fremdgesteuert und daher „häufig lediglich geschickt inszenierte Illustrationen, deren Surrogatfunktion die Schüler*innen schnell erkennen. Der Begriff der Erfahrung ist vor diesem Hintergrund gewissermaßen für das ‚wirkliche Leben‘, den Alltag, das Leben jenseits der Schule reserviert und verliert seinen Pathos bei der Beschäftigung mit Theorien und Büchern“ (Combe/Gebhard