Jetzt tat Elfriede das Dümmste, was sie tun konnte, indem sie kindisch den Spieß umdrehte, zum Angriff überging, unvermittelt ihrer Mutter Vorwürfe machte. »Das kommt davon, daß du mich immer so knapp gehalten hast, daß ich garnicht gewohnt bin, etwas aus mir heraus zu gehen! Die Bielauer Baronesse oder die Landrat-Lotte dürfen alle Jahre einmal eine kleine Gesellschaft geben, nur bei uns geht es so lustlos zu, dabei sind wir doch reicher als die beiden zusammen genommen! Nun hab’ ich die Gelegenheit deiner Reise dazu benutzen wollen, mir auch mal ein paar Freundinnen einzuladen, damit du selbst wenigstens keine Schererei damit hast, und etwas vorsetzen mußte ich meinen Gästen doch auch, das siehst du doch ein! Aber weil ich eben niemals einen Schluck Wein oder ein Likörchen trinken darf, ist es mir recht übel bekommen, und nun hab ich mich vor meinen Mitschülerinnen arg blamiert.«
»Ich wollte dir sowieso nicht mehr länger zumuten, zur Schule zu gehen. Ich schrieb bereits an Fräulein Wolter und meldete dich ab.« Der Hieb saß. Und gleich, ohne den Gegner zu Atem kommen zu lassen: »Ich wußte ja gar nicht, daß Herr Casati mit der Baronesse und der Landrat-Lotte so gut steht! Übrigens ist er solchen Festivitäten noch weniger als du gewachsen.«
Alles das wurde ohne jede Erregung, mit herber Nüchternheit vorgebracht, daß Elfriede schwach in den Knieen wurde und eine Art Schwindelgefühl verspürte. Fassungslos glotzte sie Mama an, die Stimme war ihr in der Kehle erdrosselt und sie schnappte nach Luft wie ein aufs Land geworfener Fisch.
»Schade, daß es mir nicht mehr vergönnt war, seine werte Bekanntschaft zu machen. Donnerstag nachmittag ist die Beerdigung. Wir werden zusammen daran teilnehmen.«
Und Frau Kausch drehte sich, wie nach einer gleichgültigen Mitteilung, phlegmatisch um und ging gemächlich aus dem Zimmer, knallte die Tür nicht zu, sondern schloß sie so behutsam, wie man die Tür eines Krankenzimmers zu schließen pflegt.
Bis zum Beerdigungstage hatten dann Elfriede und ihre Mutter aneinander vorbeigelebt wie zwei feindliche Tiere, die durch des Menschen mächtigeren Willen in den gleichen Käfig gesperrt und gezwungen sind, sich wenigstens äußerlich zu vertragen. Elfriede schämte sich auszugehen: die Abmeldung war nun einmal im Lyzeum eingereicht, ihre Mitschülerinnen würden tuscheln, sie war nicht mehr ihresgleichen, Edith Hahn sollte gar studieren, die Landrat-Lotte wenigstens die Abschlußprüfung bestehen, Elfriede Kausch gehörte nicht mehr dazu, und auch die Tanzstundenpennäler würden sie kaum noch gelten lassen. Gern hätte sie sich bei Paula Trost und Rat geholt, aber die ließ sich nicht blicken, und Elfriede wagte zunächst nicht mehr, eigene Wege zu gehen, sie hatte das entsetzliche Gefühl, daß der Mutter kontrollierendes Augenpaar allgegenwärtig über ihrem Tun und Lassen wache.
Während der Trauerfeier jedoch waren, als Casatis Sarg in die Grube gelassen wurde, Mutter und Tochter einen Augenblick lang unwillkürlich eines Sinnes gewesen: jede dachte, wenn auch aus unterschiedlicher Erwägung heraus: »Geschieht ihm recht, geschieht ihm ganz recht!«
Aber sobald sie nachher zu Hause waren, gewitterte die Entscheidungsschlacht mitleidslos. Die Witwe wärmte den vom Frühstück übrig gebliebenen Kaffee auf. Man saß, um das Meublement der andern Räume zu schonen, am Küchentisch. Frau Kausch goß die Lake in zwei Tassen, auf der einen stand: »Bete und arbeite!«, der andren fehlte der Henkel. Die Mutter brockte in ihre Zichorienbrühe altbackene Semmelreste und schlapperte so gierig, daß es die Tochter ekelte. Elfriede zog einen Flunsch, schob angewidert ihre Tasse beiseite. Da fragte die Mutter – und mehr als das Gesagte, verdroß die Tatsache, daß die Alte mit vollem Munde sprach, den Backfisch: »Die Mahlzeit ist wohl dem Fräulein nicht fein genug? Prinzessin sind gar sehr heikel. Du hast es nötig, du dämliche Pute! Du wirst noch gar viele Löcher im Leben zurückstecken müssen! Das hätte dir wohl so gepaßt, immer nur aus dem Vollen heraus zu wirtschaften und niemals zu fragen, woher es kommt! Hättest nicht lange so weiter gemacht, du dummes Ding! Vielleicht wäre es sogar besser gewesen, der Komödiant wäre am Leben geblieben und du hättest richtig durchgemacht, was es heißt, mit so einem Zigeuner verheiratet zu sein. Da wären dir wohl die Äuglein aufgegangen. Da wärst du noch einmal froh gewesen, wenn du solchen Kaffee gehabt hättest, über den du jetzt die Nase rümpfst. So üppig ist ein Komödienspieler nicht dran, daß es alle Tage Fettlebe gegeben hätte. Hast ja gesehen, wie er hier dreinhieb, konnte nicht genug kriegen, natürlich war er’s nicht gewohnt und fraß sich die Krätze an den Wanst! Und auch sonst hättest du wohl dein blaues Wunder an dem Hallodri erlebt. Wenn er besoffen nach Haus gekommen wäre, da hättest du nichts zu lachen gehabt, kurz und klein geschlagen hätte er das Bissel Gelumpe, was ihr euch eventuell mal angeschafft hättet. Weißt wohl noch garnicht, wie er sich hier aufgeführt hat, als er einen in der Krone hatte? Als ob die Wandalen in unsrem Salon gehaust hätten, sah es aus. Danke Gott, daß der Herr sich gleich beim ersten Rendezvous gründlich dekuvrierte und ebenso gründlich aus dem Staube machte. Friede seiner Asche!«
Elfriede sprang so heftig auf, daß sie ihre Tasse umwarf und sich den Kaffee aufs Kleid goß, das nun noch verferkelter aussah, als der Frau Mama besabbertes, fettig glänzendes Alltagsgewand, und schrie: »Ich habe ja alles demoliert, ich, nicht er war es! Weil ich den ganzen Plunder hier nicht mehr sehen kann – weil . . weil . . .« Sie fand nicht die nötigen schlichten Ausdrücke, sich verständlich zu machen, und wirkte schon durch ihre Exaltiertheit wenig überzeugend. Die Mutter vermutete eine Verschrobenheit in ihr, die allzu romantisch war und nur noch im Unterhaltungsteil des Generalanzeigers existierte, und fragte mitleidig: »Woher du nur wieder diese Überspanntheit hast? Wenn euch die Töchterschule solche Raupen in den Kopf setzt, dann ist es höchste Zeit, daß du dort rauskommst! Den Liebsten in Schutz nehmen, sich selbst bezichtigen, damit kein Makel auf ihn fällt: du lieber Gott, das ist ja wohl ganz hirnverbrannt.«
Elfriede verzweifelte daran, ihrer Mutter jemals die Zusammenhänge klarmachen zu können. Mit der größten Anstrengung und komisch sich überqiecksendem Tone kriegte sie grade noch heraus:»Er war gar nicht mein Liebster! Im Gegenteil . . .« Weiter kam sie nicht, denn sie hatte keine Ahnung, wie sie der Alten alles das beibringen sollte, was an schwierigem Durcheinander sich begeben hatte. Übrigens schnitt Frau Kausch jede unfruchtbare Fortführung der Debatte mit der Feststellung ab: »Jedenfalls hast du nun einen Stich weg. Und vielleicht ist das auch ganz gut so, weil es deinen Hochmutsteufel etwas dämpft. (Mutter Kausch sprach so kurioses Bilderdeutsch!) Jetzt wirst du froh sein, wenn ein solider, anständiger Kaufmann dich noch zur Frau nehmen mag. Unser Geschäftsführer Goller hat mir schon vor einiger Zeit gestanden, daß er etwas für dich übrig hat. Natürlich mußte ich ihm gestern andeuten, daß du nicht mehr ganz so bist, wie er es hätte verlangen dürfen. Aber er hat nun mal einen Narren an dir gefressen und nimmt dich auch so.«
Elfriede wollte wieder aufbegehren, daß mit dem Mimen, dem unfähigen, leider gar nichts geschehen sei, da erinnerte sie sich des Spiels mit Paula und schwieg. Der Befund würde gegen sie sein. Und die letzte Mitteilung ihrer Frau Mama war ihr nicht einmal unlieb. Zumindest kam sie auf diese Weise aus der mütterlichen Gewalt und in eine gewisse Selbständigkeit. Der Geschäftsführer Fritz Goller war fünfundzwanzig Jahre älter als sie, hatte einen Bierbauch, kleine Schweinsäuglein, eine Kastratenstimme und weibisch weiche Patschhände. Er meinte die Fabrik, das Ansehn, das Kapital der Firma Kausch. Er war der günstigste Fall.
Frau Kausch fuhr fort: »Natürlich mußt du erst mal lernen, eine Häuslichkeit zu führen. Ich habe bereits mit Herrn Lubschick gesprochen, daß er dich in seinem Restaurationsbetrieb als Kochfräulein volontieren läßt. Morgen früh um neun wirst du dich dort melden, dann hat das Luderleben ein Ende.«
Elfriede muckschte nur noch um ihrer Selbstachtung und eines guten Abgangs willen etwas von »Vergewaltigung« und »Über meinen Kopf weg verfügen«, aber sie meinte es längst nicht mehr ernst.
Am nächsten Morgen trat sie zum Kochunterricht