Die alte Bernert stimmte in das Lob ihrer Tochter ein, tat rührselig überzeugt und strich ihr übers Haar. Dabei war zuhause immer Zwist, Paula versuchte, wo sie nur konnte, dem Zwang zur Arbeit zu entwischen, kratzte oft aus und ließ sich den ganzen Tag über nicht blicken. Jetzt machte sie zu dem Gerede der beiden Mütter ein scheinheiliges Gesicht. Innerlich war sie mit sich im reinen. Frau Kausch hätte nicht mehr nötig gehabt, unbesonnenerweise nachsichtig auf Paulas Gebresten anzuspielen. »Da sieht man eben, daß Schönheit auch nicht das vollkommene Glück bedeutet, denn ein schmuckes Mädel ist die Elfriede ja, aber das schadet in diesem Fall eher, als daß es nützt: desto mehr Nachstellungen wird sie ausgesetzt sein. Gottlob ist sie in dieser Beziehung noch das reine Kind, und sobald sie in das Alter kommt, wird es hoffentlich möglich sein, sie mit einem anständigen jungen Mann zu verheiraten. Freilich hat der dann auch seine Schwierigkeiten; bei unsereinem weiß man nie, ob nicht nur die Mitgift gemeint ist. Danken Sie Gott, Frau Bernert, daß Ihnen solche Sorgen wenigstens erspart bleiben!« Da hatte die Witwe Kausch sich jede menschliche Rücksicht Paulas verscherzt. Paulas Mutter aber war imstande, sich wirklich bei Gott zu bedanken.
Als Elfriede Kausch das nächste Mal im Korridor hochnäsig an Paula vorbeistreichen wollte, sagte Paula untergeben: »Guten Tag, gnädiges Fräulein!« Und fügte, ehe Elfriede sich von der Überraschung erholen konnte, mit einem Verschwörerflüstern, das neugierig machte, hinzu: »Ihre Mama tut Ihnen Unrecht.« Das »Sie« der Gleichaltrigen und das »Gnädige Fräulein« wirkten überwältigend. Und daß Paula gleich hinterher im Zimmer verschwunden war und, als Elfriede eintrat, wie immer bei der Schneiderarbeit mit den beiden Frauen saß und mit keinem verstohlenen Blick zu Elfriede auf das Vorgefallene Bezug nahm. Nach einigen Tagen, in denen Paula unzugänglich blieb, war Elfriedes Widerstandskraft gebrochen. Dem Schneidermädel wurde ein Papierknäuel zugeschoben, das den Termin und den Ort zu einer geheimen Aussprache angab.
Diese entscheidende Zusammenkunft der beiden Mädchen fand auf dem Dachboden statt; über den ganzen Raum waren Leinen gespannt, auf denen die Wäscheklammern wie Sperlinge auf Telegraphendrähten saßen und unter denen man geduckt durchkriechen mußte, in der Ecke standen ein paar leere Wäschekörbe, die wurden umgestülpt und auf ihnen saß man. Elfriede hatte anfangs ungefähr die reservierte Haltung, die der Audienz erteilenden Königin in den Klassikerdramen einer Schülervorstellung wohl ansteht. Trotzdem war Paula gleich die Überlegnere. Obwohl sie die Rolle der unterdrückten und schmählich vernachlässigten Waise spielte, die ihre ergebenen Dienste anbot, bestimmte und lenkte sie sofort Form und Ton des Verhältnisses zu einander. Mit berechnetem Zögern, wobei der nächste Satz den vorhergegangenen schon wieder halb zurücknahm, abschwächte und verleugnete, deutete Paula der höheren Tochter an, daß etwas mit ihrer Abstammung nicht stimme. Aber wie sich die Sache rundheraus verhalte, das war nicht herauszulocken. Sie dürfte nicht so reden, wie sie wollte, aber sie hätte es nicht übers Herz gebracht, Fräulein Elfriede (das »Fräulein« machte sich immer gut und wurde auch von einem erregten Herzen registriert) ohne Warnung zu lassen. Dies Geplänkel zog sich geraume Zeit hin. Immer mehr bekam Paula das Honoratiorenkind in die Verfassung, in der sie es haben wollte. Längst war angedeutet und allerdings nachher fast widerrufen worden, daß Herr Kausch nicht Elfriedes wirklicher Vater gewesen und daß es unverantwortlich von Frau Kausch wäre, ihre Tochter nicht endlich aufzuklären. Über den Rang des wirklichen Vaters hatte Paula nichts gesagt, aber es stand für Elfriede fest, daß er dem ihres angeblichen Papas weit überlegen sein müsse. Mit dem Hochmut einer Jugend, die sich eben erst in höhere Bildungsbezirke vortastet, kreidete sie dem alten Kausch seine Sprachverstöße als Verbrechen an: Vanille hatte er »Fahnille« ausgesprochen und hartnäckig fanatisch und phantastisch verwechselt! Als die Unterredung beendet war, war nichts Genaues ausgesagt und doch der Stachel in Elfriedes Empfinden getrieben. Paula hatte gesiegt, die andre kam von ihr nicht mehr los. Es folgten weitere heimliche Zusammenkünfte, die das unnatürliche Band noch fester knüpften. Vom ursprünglichen Thema, Elfriedes wirklichem Vater, war kaum noch die Rede. In dieser Beziehung blieb für Elfriede alles im Vagen, Rätselhaften und behielt desto dauerhafter einen verführerischen Reiz. Den vornehmen Mitschülerinnen machte Elfriede affektierte, dunkle Andeutungen, die nicht verstanden wurden. Die Bielauer Baronesse, die Tochter vom Kommerzienrat Hahn und die Landrat-Lotte kamen überein, sie nicht mehr ernst zu nehmen und sich von der fragwürdig Gewordenen in vorsichtiger Distanz zu halten. Plötzlich sah Elfriede sich aus dem kleinen Kreis der Bevorzugten ausgeschlossen, begegnete sie bei der Masse ihrer Mitschülerinnen grenzenloser Schadenfreude, denn die knapp gehaltenen Töchter von mittleren Beamten hatten von vornherein den begünstigteren Sprößling einer für ihre Begriffe schmierigen Parvenüfamilie der verachteten Tütenkrämerart gehaßt.
Wider ihren Willen wurde jetzt Elfriede in die radikale Opposition gedrängt und dem Gassenbalg Paula auf Gedeih oder Verderb verbunden. Immer noch trafen die zwei Mädchen sich heimlich, niemand wußte von dieser Freundschaft, nichts ahnten die beiden Mütter.
VI
Inzwischen hatte Paula in Erfahrung gebracht, daß Frau Kausch damals nicht geflunkert hatte: Elfriede war, was erotische Erlebnisse oder auch nur Kenntnisse anlangte, tatsächlich das reine Schaf. Diese höheren Töchter pflegten natürlich von allerlei Dingen zu munkeln, die eine oder andre wollte das und jenes gehört haben, manche hatte einen älteren Bruder, einen Vetter, etwas Bestimmtes war jedenfalls nicht passiert, oder wer wirklich mehr wußte, der verschwieg wohlweislich seine fortgeschrittnere Erfahrung. Kurzum, Elfriede Kausch hatte keinen blassen Dunst, war aber nervös begierig, in das Geheimnis eingeweiht zu werden, und naiv lüstern wie eine Gefangene, die sich mit ausschweifenden Vorstellungen überhitzte. Ihre Phantasie wurde von Paula weiter aufgepeitscht und der Pfefferküchlerstochter das Geständnis entlockt, wie sehr sie für René Casati, den Charakterdarsteller des Stadttheaters, schwärme.
Paula versprach, die persönliche Bekanntschaft zu vermitteln. Zu diesem Zwecke kam sie noch einmal auf den Militärmusiker Kusche zurück. In der Theaterspielzeit, von Oktober bis Ostern, stellte die Infanteriekapelle allabendlich das Bühnenorchester. Ein paar geschickt vorgebrachte Drohungen machten den Musiker nicht nur gefügig, sondern überaus diensteifrig und gradezu erfinderisch. Zuerst einmal erfuhr Paula durch ihn, was an Klatschereien und Garderobengerüchten über René Casati im Umlauf war, und da blieb, zog sie auch die nötige Übertreibungsquote ab, noch genug, ihre Schadenfreude in Schwung zu setzen.
René Casati, den Elfriede sich als gefährlichen Don Juan, Frauenverbraucher, Liebeskünstler vorstellte, vor dessen rücksichtslosem Draufgängertum sie teils begehrlich, teils ängstlich erschauerte, war – wenn die Beobachtung seines Kollegen stimmte – ein phlegmatischer, abgenutzter, impotenter Lebenspensionär, der überhaupt für nichts Erotisches mehr, sondern nur noch für Sauf- und Freß-Orgien Interesse hatte. Paula frohlockte: besser hätte sie es garnicht treffen können. Die geizige Alte und der eitle Backfisch würden dort verwundet, wo es ihnen am schmerzlichsten wehtat.
Eines Mittags, nach der Probe einer Posse mit Gesang und Tanz, sprach Kusche den Mimen an. »Ich wollte dem großen Künstler schon immer mal danken, für den Genuß, den ich von ihm habe, wenn ich auch bloß unten im Orchester sitze, wo ich nicht viel mehr als die Köpfe sehn kann. Und weil ich nun endlich den Mut dazu finde, möchte ich auch gleich wagen, ein privates Anliegen vorzubringen, das freilich nicht so sehr mich selbst betrifft. Eigentlich schäme ich mich ja, es zu sagen, weiß ich doch, wie Künstler von Herrn Casatis Beliebtheit unter der gutgemeinten Zudringlichkeit ihrer Verehrer und Verehrerinnen zu leiden haben.« Als der Schauspieler geschmeichelt beteuerte, wie sehr, »im Gegenteil«, solches Interesse ihm wohltue, und den Musiker, indem er eine leutselige Exzellenz oder einen jovialen Monarchen spielte, ohne Scheu sprechen hieß, wußte Kusche ihm den Mund ordentlich wäßrig zu machen. Es existiere in dieser Stadt, die leider so klein sei, daß der Nachbar wisse, was man tue, und Vorsicht geboten bliebe, eine junge Dame aus den besten Kreisen, wo man auf die Pflege alter Eß- und Trink-Kultur noch Wert lege. Diese junge Dame, eifrige Theaterbesucherin (Elfriede hatte nur »Preziosa«, »Maria Stuart« und das Weihnachtsmärchen »König Drosselbart« sehen dürfen) möchte ihn gerne persönlich kennenlemen. Das hätte jedoch seine Schwierigkeiten, denn das Fräulein, Erbin eines kürzlich verstorbenen Großindustriellen, würde von einer habgierigen Tante bewacht. Doch gäbe es einen Umweg über eine treu ergebene Kammerzofe, die