Als Elfriede aus diesen Freuden wieder zu sich kam, bezeugte sie der schiechen Paula eine rührende, ganz sanfte Ergebenheit. Und einen Augenblick lang war Paula dieser Innigkeit ohne Berechnung ebenso verfallen, streichelte Elfriedes Haar und glaubte, die Welt erlaube so selbstverlorene Schwärmereien. Einen kurzen Augenblick nur – dann sah sie auf Casatis eklig glotzende Totenfratze, sie wußte wieder Bescheid und vollendete kaltblütig ihrem Selbsterhaltungstrieb gehorsam das widrige Werk der Vernichtung. Elfriede hatte anscheinend vergessen, daß der Schauspieler mit von der Partie gewesen war; es galt, ihr den peinlichen Anblick zu ersparen, und Paula hielt Elfriedes Kopf an ihrer Brust und animierte sie zum Trinken. Elfriede wollte nun ihrerseits imponieren und zeigte, wie Studenten ex trinken – sie hatte es von ihrem Tanzstundenpartner gehört; Paula dachte: »Krepier’ dran!« und schien fleißig mitzutun. In Wirklichkeit wußte sie ihr Glas jedesmal heimlich fortzugießen, während Elfriede, wie es im Studentenjargon heißt, »bierehrlich soff«. Da sie fast nichts gegessen hatte, war die Wirkung bald fürchterlich. Sie fing unbeherrscht zu schimpfen an, und zwar auf die Mutter, die Elfriedes ganzes Leben knickrig beeinträchtige. Paula stimmte hetzerisch zu und fachte die Entrüstung weiter an. »Mama tut, als ob man ohne den ganzen Krempel hier nicht existieren könnte! Weil sie sich einmal diese Häuslichkeit hier geschaffen hat, soll ich gezwungen sein, sie fortzuführen. Sie denkt sich, daß ich mal einen dieser faden Koofmichs heiraten und hier so wie sie versauern werde. Ich denke nicht dran!« »Bravo!« »Am liebsten möchte ich alles kurz und klein schlagen!« »Warum tust du’s nicht?« Und Paula nahm, um ihr Mut zu machen, eine leere Flasche und warf sie gegen die Wand.
Damit begann eine Orgie der Zerstörungswut. Schüsseln, Teller, Gläser flogen an die Tapete. Speisereste, Brothappen, Knochen wurden verstreut. Zwischendurch trank man gerührt. Elfriede fegte mit wildem Schrei die Nippesfiguren von der Kommode, durchstieß Vaters lebensgroßes Porträt, zerbrach die Staffelei, auf der es gestanden hatte, riß sich selbst die Kleider vom Leib, tanzte auf dem Trümmerfeld von Scherben, Möbelstücken, Tuchfetzen, und fiel plötzlich um, ähnlich dem Schauspieler, doch mit dem Unterschied, daß sie noch völlig lebendig war und sich auf den Ruinen ihres Heimkarthagos scheußlich übergab.
Kurz nachher wurde draußen die Korridortür aufgeschlossen, fuhr Mutter Kausch geschäftig im Gang herum. Paula wartete gespannt auf den Schlußeffekt der Komödie; bis Frau Kausch endlich ins Zimmer trat, schien eine Ewigkeit zu vergehen. Und dann war die Szene garnicht einmal so wirkungsvoll, wie man sie sich erhofft hatte.
Frau Kausch begann weder zu schreien, noch fiel sie in Ohnmacht bei dem unerwarteten Anblick, der sich ihr da bot: die gute Stube verwüstet, die teuren Möbel versaut und beschädigt, Zeichen eines kostspieligen Gelages, die Tochter und ein fremder Mann in verdächtiger Kostümierung sinnlos betrunken, dieser Balg der Aushilfsschneiderin in der zweideutigen Rolle einer Komplizin!
Die Witwe brachte erst einmal ihren Gelegenheitskauf in Sicherheit, dann nahm sie einen Stuhl und setzte sich. »Hier ist etwas Unerwartetes über die Geizige verhängt worden, etwas so Ungeheuerliches, daß ihre gewöhnliche Unerschütterlichkeit glatt kapitulieren muß«, dachte Paula. Aber Frau Kausch war gestählt und überlegte in Ruhe, wie sie das angerichtete Unheil mit dem geringsten Kostenaufwand liquidieren könnte. Der unangenehme, halb parfümschwüle, halb säuerliche Geruch, der in dem Zimmer herrschte, hatte sie zuerst gestört, nun machte er sie aus Widerwillen wach und zum äußersten entschlossen. Mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre Paula hier die lang angestellte Magd, rief sie ihr zu: »Aufräumen! Dalli, dalli!« Und die Schneiderintochter, die alles andre eher erwartet hatte als diese Art, auf eine so katastrophale Überraschung zu reagieren, gehorchte erschrocken. Schweigend krochen Frau Kausch und Paula auf dem Teppich herum und sammelten zwei Körbe voll. In den einen kam, was unweigerlich verloren war, in den andern, was man mit einiger Nachsicht noch gebrauchen könnte, und vor dem Trödlerblick der Frau Kausch fand vieles als verwendbar großzügig Gnade.
Als einigermaßen Ordnung geschaffen war, kam Elfriede an die Reihe. Ein paar knallende Ohrfeigen, von der Mutter verabreicht, fruchteten wenig; kaum daß der sinnlos betrunkene Fratz die vage Anstrengung machte, sich zu bewegen, und etwas Unverständliches lallte. Auch hier mußte schließlich Paula mit anfassen. Unsanft wurde Elfriede ins Badezimmer hinübergeschleift und in die leere Wanne gelegt, denn Frau Kausch wollte auf jeden Fall das Bett vor unliebsamer Verunreinigung bewahrt wissen.
Schließlich galt es den gefährlichsten Fall zu beheben: die Sache mit dem wüsten Mannsbild, Eindringling und Friedensstörer, Mädchenverführer und Mitgiftjäger aus der Welt zu schaffen. Frau Kausch machte eine geringschätzige Handbewegung auf den Sessel hin, in dem der Mime lag, und fragte: »Und was ist mit dem Schweinkerl?« Paula war über diese ordinäre Sprache glücklich, als hätte sie das reiche Weib nun dort, wo sie es haben wollte, und antwortete im ruhigen Ton einer beiläufigen Auskunft: »Der ist tot. Schlaganfall.« Auch darauf reagierte Frau Kausch ganz anders, als es Paula erwartet hatte. Mit befriedigtem Nicken sagt sie: »Geschieht ihm recht!« Denn sie nahm es sofort als gerechte Strafe des Himmels für den ihr angetanenen Frevel; einen wieviel kleineren Verstoß gegen die gottgewollte Selbstbescheidung hatte ihr seliger Bruno mit dem Tode büßen müssen! Ihr zweiter Gedanke war: »Den Hauptschädling bin ich los. Er kann aus dem, was geschehen sein mag, keine Ansprüche mehr herleiten. Ich werde Elfriede jetzt möglichst rasch nach meinem Willen verheiraten. Dieser erste Schrecken wird ihr die Lust zu allen weiteren Abenteuern verleidet haben. Sie wird hübsch gefügig sein, froh, daß es noch einmal so glimpflich ablief. Auch mich hätte es noch mehr kosten können!« Und durstig von der Anstrengung des Aufräumens, nahm sie das halbvolle Glas René Casatis – und trank es leer, wobei sie genau so schmatzte, wie er es vorhin getan hatte. Zu ihrer Genugtuung erfuhr sie, daß es sich um einen Schauspieler handelte. Wenigstens kein Ortseingesessener! Der Skandal würde sich vermeiden lassen. Sie schärfte Paula ein, was sie auszusagen hätte, und schickte sie zu ihrem alten Hausarzt. In der Zwischenzeit richtete sie alles vollends manierlich her. Es sah nun so aus, als hätte das Unglück sich während eines kleinen offiziellen Soupers zugetragen.
VIII
Am andern Tage stand im Stadtblatt die Notiz: »Das beliebte Mitglied unsres Musentempels, Herr René Casati, wurde uns gestern durch einen jähen Todesfall entrissen. Er war in einer unsrer gediegenen Großkaufmannsfamilien, deren Mäzenatentum ja allgemein bekannt ist, zu Gast. Mitten in der vornehmen, aber bescheidenen Festlichkeit erlitt er einen Ohnmachtsanfall und der sofort herbeigeholte Herr Sanitätsrat Dr. Preussner konnte nur noch den Tod feststellen, als dessen Ursache er Herzschlag angab. Wie oft mag der wackre Künstler René Casati, der auf eine mehr als dreißigjährige Bühnenlaufbahn zurückblicken konnte, in Schillers »Wilhelm Teil« auf den Brettern, die die Welt bedeuten, wohl jene erschütternden Verse angehört oder gar mitgesprochen haben: »Rasch tritt der Tod den Menschen an . . .«, ohne zu ahnen, daß sie einmal an ihm selbst so eklatant sich verwirklichen würden!«
Frau Kausch kam zu dem unverhofften Triumph, von den andern Bürgerfamilien um das sensationelle Ereignis beneidet zu werden. Das Begräbnis des Schauspielers bildete für die ganze Stadt eine außergewöhnliche Begebenheit. Die Kolleginnen und Kollegen des Verstorbenen erregten in ihren seltsamen, teils altväterischen, teils dürftigen, teils ihrer Zusammenstellung nach ungewöhnlichen Trauerkleidern ein berechtigtes Aufsehen. Sie alle zeigten in Mienen und Gesten etwas übertrieben Leidtragendes, spielten nach besten Kräften die Rolle der trauernden Hinterbliebenen aus einem imaginären romantischen oder realistischen Drama. Es war sogar eine richtige Witwe vorhanden. René Casati hieß, wie sich jetzt herausstellte, eigentlich Reinhold Wichler. Dieser beruhigend normale Name und das mickrige, solid bieinbürgerliche