10. Die Unstimmigkeit zwischen der hebräischen und unserer Überlieferung in den Angaben über die Dauer der Lebensjahre (Vgl. zur Sache neuestens: Seb. Euringer, Die Chronologie der biblischen Urgeschichte, 3. Aufl. 1913, besonders S. 11 f.).
Wenn nun auch hinsichtlich der Zahl der Lebensjahre einige Verschiedenheit obwaltet zwischen dem hebräischen[212] und unserem Text[213] — wie das so gekommen ist, weiß ich nicht —, so ist sie doch nicht so groß, daß sie die lange Lebensdauer der Menschen von damals berührte. So hat gleich der erste Mensch Adam[214] bis zur Geburt jenes Sohnes, der den Namen Seth erhielt, nach unserer Überlieferung 230 Jahre gelebt, nach der hebräischen 130; und nach dessen Geburt hat er nach unserem Text 700 Jahre gelebt, nach dem hebräischen 800; die Gesamtsumme stimmt also beiderseits überein. Und so werden auch durch die folgenden Zeugungsberichte hindurch[215] dem jeweiligen Vater bis zur Zeugung des Sohnes, der erwähnt wird, in der hebräischen Textüberlieferung 100 Lebensjahre weniger zugeteilt; dagegen nach der Zeugung des betreffenden Sohnes gibt dem Vater unsere Textüberlieferung 100 Jahre weniger als die hebräische; und so stimmt die Gesamtzahl hüben und drüben überein. In der sechsten Zeugungsfolge jedoch weicht die beiderseitige Überlieferung nirgends voneinander ab. In der siebenten aber, welcher jener Enoch angehört, von dem es heißt, daß er nicht gestorben, sondern, weil er Gott gefiel, hinweggenommen worden sei, zeigt sich wieder die gleiche Unstimmigkeit wie in den ersten fünf bezüglich der 100 Jahre vor der Zeugung des Sohnes, der dort erwähnt wird, und in der Summe die gleiche Übereinstimmung. Enoch lebte nach der beiderseitigen Überlieferung bis zu seiner Hinwegnahme 365 Jahre. Die achte Geschlechtsfolge weist einige Verschiedenheit auf, doch eine geringere und anders geartete als bisher. Mathusalam nämlich, der Sohn des Enoch, lebte nach dem hebräischen Text bis zur Zeugung dessen, der in der Urväterliste folgt, nicht 100 Jahre weniger, sondern 20 Jahre mehr; diese 20 Jahre findet man in unserem Text wieder nach der Zeugung hinzugezählt, und beiderseits entspricht sich die Summe der Gesamtlebensjahre. Nur in der neunten Geschlechtsfolge, d. i. bei den Lebensjahren des Lamech, des Sohnes Mathusalams und des Vaters Noes, weicht die Gesamtsumme voneinander ab, jedoch nicht sehr weit. Die hebräischen Bücher teilen ihm 24 Lebensjahre mehr zu als die unseren. Er ist bei der Zeugung des Sohnes, der Noe benannt ward, 6 Jahre jünger in der hebräischen Überlieferung als in der unsrigen. Dagegen erhält er nach dieser Zeugung von der hebräischen 30 Jahre mehr zugeteilt als von der unsrigen. Davon die 6 abgezogen, bleiben die erwähnten 24 Jahre übrig.
11. Bei Berechnung des Lebensalters Mathusalams ergibt sich, daß er 14 Jahre die Sündflut überlebt hätte.
Infolge dieser Abweichung unserer Überlieferung von der hebräischen erhebt sich jene vielerörterte Frage der Berechnung des Lebensalters Mathusalams. Es rechnet sich heraus, daß er nach der Sündflut noch 14 Jahre gelebt hätte, während doch die Schrift von allen damals auf Erden lebenden Menschen nur die acht in der Arche, unter denen sich Mathusalam nicht befand, dem Verderben der Sündflut entrinnen läßt. Nach unserer Textüberlieferung hätte nämlich Mathusalam bis zur Zeugung des Sohnes, den er Lamech nannte, 167 Jahre gelebt; danach Lamech bis zur Geburt seines Sohnes Noe 188, zusammen 355 Jahre; dazu kommen die 600 Jahre, die Noe bis zur Sündflut lebte; das macht dann von der Geburt Mathusalams bis zum Jahr der Sündflut 955 Jahre. Die Gesamtlebensjahre Mathusalams aber berechnen sich auf 969; denn nach Ablauf von 167 Lebensjahren zeugte er den Sohn, der Lamech genannt ward, und nach dessen Zeugung lebte er noch 802 Jahre; das gibt zusammen, wie gesagt, 969 Jahre. Zieht man davon ab die 955 Jahre von der Geburt Mathusalams bis zur Sündflut, so bleiben 14 Jahre übrig, um die er, wie man glaubt, die Sündflut überlebt hat. Da dies nicht möglich war auf Erden, wo bekanntlich alles Fleisch vernichtet ward, das nicht von Natur aus im Wasser lebt, so nehmen manche an, er habe sich einige Zeit bei seinem Vater befunden, der hinweggenommen worden war, und habe dort bis zum Vorübergang der Sündflut gelebt; sie wollen eben die Glaubwürdigkeit dem Text nicht absprechen, dem die Kirche mehr Ansehen und Gültigkeit zuerkennt, und nehmen an, der der Juden vielmehr enthalte nicht das Wahre. Denn daß hier eher ein Irrtum der Übersetzer vorliegen könne als eine Unrichtigkeit in der ursprachlichen Überlieferung, aus der die bei uns geltende Schrift auf Grund der griechischen Übersetzung in unsere Sprache übertragen worden ist, geben sie nicht zu, vielmehr sagen sie, es sei nicht anzunehmen, die 70 Übersetzer, die alle zu gleicher Zeit und im gleichen Sinne übersetzten, hätten irre gehen können[216] oder in einer für sie gleichgültigen Frage fälschen wollen; dagegen hätten die Juden, aus Neid darüber, daß Gesetz und Propheten auf dem Weg der Übersetzung auf uns gelangt seien, manches in ihren Handschriften geändert, um das Ansehen unserer Überlieferung zu schmälern. Von dieser Meinung oder Argwöhnung mag man halten, was man will; sicher ist jedenfalls, daß Mathusalam die Sündflut nicht überlebt hat, sondern im Jahre der Sündflut gestorben ist, wenn es sich mit der Zahl seiner Lebensjahre so verhält, wie die hebräische Überlieferung berichtet. Was ich aber von den 70 Übersetzern halte, soll an seinem Orte[217] ausführlich besprochen werden, wenn wir nach Maßgabe der Anlage dieses Werkes auf deren Zeiten zu reden kommen, so Gott will. Für die vorliegende Frage genügt die Feststellung, daß nach der beiderseitigen Überlieferung die Menschen jener Urzeit solange lebten, daß sich das Menschengeschlecht bei Lebzeiten ein und desselben Menschen, des Erstgeborenen der beiden Eltern, die damals allein auf Erden waren, hinreichend vermehren konnte, um selbst eine Stadt zu gründen.
12. Auseinandersetzung mit der Annahme, daß die Menschen der Urzeit nicht so langlebig gewesen seien, wie geschrieben steht.
Es geht nämlich durchaus nicht an, für die Jahre jener Urzeit eine andere Berechnung als die heutige anzunehmen, und zwar, wie man versucht hat, sie als Zehnteljahre zu erklären. Wenn es also heiße, es habe einer 900 Jahre gelebt, so müsse man darunter 90 Jahre verstehen; denn 10 Jahre von damals seien ein Jahr von heute, und 10 von heute seien 100 von damals. Und demnach war nach dieser Ansicht Adam 23 Jahre alt, da er Seth zeugte, und Seth wieder zählte 20 Jahre 6 Monate, als Enos aus seinem Samen geboren ward, ein Lebensalter, das die Schrift auf 205 Jahre angibt. Damals teilte man nämlich nach der Vermutung der Vertreter dieser Meinung ein Jahr im heutigen Sinne in 10 Teile und nannte diese Teile Jahre. Ein solcher Teil hält in sich die Sechszahl im Quadrat, da in 6 Tagen Gott seine Werke vollendet hat, um am siebenten zu ruhen [wovon ich im elften Buch nach Vermögen gehandelt habe][218] . 6 X 6, d. i. 6 im Quadrat, macht 36 Tage; diese mit 10 vervielfältigt geben 360 Tage, d. i. 12 Mondmonate. Was die fünf übrigen Tage zur Ergänzung des Sonnenjahrs betrifft und den Viertelstag, wegen dessen man alle vier Jahre, im sog. Schaltjahr, einen Tag einschiebt, so wurden von den Alten hinterher Tage angeschlossen, die Interkalartage, wie sie die Römer nannten, damit die richtige Tageszahl der Jahre herauskomme. Demnach zählte auch Enos, den Seth zeugte, 19 Jahre[219] , als aus seinem Samen sein Sohn Kainan geboren ward. Und auch weiterhin durch alle Zeugungsberichte hindurch, in denen vor der Sündflut die Lebensjahre angegeben sind, wird kaum einer aufgeführt in unseren Büchern, der gezeugt hätte in einem Alter von 100 Jahren oder darunter oder auch von 120 Jahren und nicht erst in einem viel höheren; vielmehr wird als jüngstes Zeugungsalter 160 Jahre und darüber genannt; denn, sagen sie, mit 10 Jahren kann niemand Kinder zeugen, und 10 Jahre hieß man damals 100 Jahre; dagegen mit 16 Jahren ist die Mannheit reif und bereits fähig zur Zeugung von Nachkommenschaft, und dieses Lebensalter verstand man damals unter 160 Jahren. Um aber die abweichende Jahresdauer von damals einigermassen glaubhaft erscheinen zu lassen, berufen