Mengsdorf war selbstverständlich ausgezeichneter Laune. Nicht nur, dass er Tatjana leidenschaftlich liebte, nein, was für eine Reklame war es für ihn, mit der schönen Frau Gawrilowa gesehen zu werden!
5.
Wer war die Gawrilowa? Was war es mit der Gawrilowa? Eine Anfrage bei ihren Bekannten hätte merkwürdige Ergebnisse gehabt. War sie etwa keine Kokotte, weil sie über ein in der Bank von England lagerndes Vermögen von vielen Millionen verfügte? War sie etwa keine bedeutende Sängerin, weil sie höchstens alle halbe Jahre einmal öffentlich sang? War sie etwa keine Männerjägerin, weil es langsam – und sehr wider die öffentliche Meinung – durchsickerte, dass die Männer, mit denen sie vertraulich umging, mit denen sie reiste, wohnte, alle nicht an das heiss erstrebte „Ziel“ kamen? War sie, die Lieblingsschülerin der Pawlowa, etwa keine bedeutende Tänzerin, weil sich die Wigman abfällig über sie geäussert hatte?
Tatjana war eine ausgezeichnete Figur für alle Konventikel von Snobs und Übersnobs. Man konnte jemandem, der, sagen wir von der Kemp begeistert war, so herrlich entgegenhalten: „Und die Gawrilowa? Ha, Sie kennen nicht die Gawrilowa?“ Man konnte in Gespräche über Tanz einstreuen, dass die Gawrilowa die einzige sei, die Ballettechnik und Ausdrucksmöglichkeit des modernen Tanzes miteinander zu verbinden wusste; und man war nur selten in der Verlegenheit, auf einen Gegner zu treffen, weil nur wenige die Gawrilowa hatten tanzen sehen. „Schon weil sie prinzipiell nur nackt tanzt, ist der Zuschauerkreis begrenzt“, konnte man schmunzelnd schliessen.
An diesen Schwätzereien, Gerüchten und Verhimmelungen war natürlich einiges richtig. Tatjana Gawrilowa hatte eine herrliche Stimme und eine ungewöhnliche Begabung für Tanz. Aber soviel sie stimmlich und körperlich (sofern es überhaupt eine Trennung von Körper und Stimme geben kann) arbeitete, so wenig lag ihr an dem Resultat dieser Arbeit für andere. Sie lachte jeden aus, der sie eine „Künstlerin“ nannte. Sie meinte, dass heutzutage Künstler sein ein unnützes Ding und ein unverlangtes Opfer an die Menschheit darstelle, und sie wünschte nicht ein Quentchen ihres Lebens zu „opfern“. Sie arbeitete „nur für sich“, und zwar arbeitete sie zumeist streng und viel. Manchmal freilich liess sie auch monatelang alles liegen, um einer Marotte willen, einer Laune zuliebe, einer Kleinigkeit wegen – wie ihre Freunde sagten.
Man kann schon aus der Heftigkeit dieser Ausdrücke ersehen, dass diese Marotten zuweilen Mannsgestalt hatten. Dann war es auch nur die Jagd nach einem Stoff, der so leicht wie warm wie bunt sein sollte, nach einem Parfüm, das einmal eine mitreisende Dame in der Eisenbahn gehabt hatte, nach einer Blume, die einmal in Nizza ... oder auch nach einem Ort, an dem es keine Menschen und vor allem keine Männer gäbe.
Derlei Suchen unterbrach die systematische Arbeit natürlich fühlbar, und so kam es, dass die Technik der Gawrilowa sowohl im Tanz wie im Gesang nicht auf der Höhe ihres Talentes stand. Für uns ist es müssig, zu untersuchen, ob der Reiz ihres Gesanges und das Ergreifende ihres Tanzes vielleicht gerade in dem Mangel an Technik lag, oder ob eine schärfere Arbeit es ihr ermöglicht hätte, wirklich „die Bedeutendste in zwei Kunstgebieten“ zu werden.
Wir unterschreiben vielmehr den Ausspruch der Gawrilowa, die sich den glücklichsten aller ihr bekannten Menschen nannte, weil es ihr zuweilen geglückt sei, zur rechten Zeit das zu formen, was sie bedrängt, und das zu gestalten, was sie erfreut habe.
Dieser Ausspruch war übrigens nichts für die Kreise der Snobs, und er hielt sich auch bedeutend kürzer als die frechen Bonmots der Gawrilowa über Männer. Erwähnenswert ist er hauptsächlich des Nachsatzes wegen, der immer unterschlagen wird und dessen unverschwommene Melancholie mit dem Hochmut des Vordersatzes aussöhnt. Tatjana hatte nämlich geschlossen: „Wie freilich die anderen Menschen das Leben ertragen, war mir immer unklar, da es doch selbst für mich zuweilen unerträglich ist. Ach, ich bewundere manchmal grenzenlos das Leben eines Durchschnittsmenschen.“
Vielleicht liegt in diesem ein wenig überspitzten Satz der Schlüssel nicht zwar zu dem Geheimnis dieser Frau, das wir in so engem Rahmen nicht ergründen zu können meinen, wohl aber zu den Geschehnissen unserer Erzählung, zu der Notwendigkeit der Begegnung zweier Menschen, deren Wege doch scheinbar von Natur und Gottes wegen auf ewig getrennt bleiben müssten, wenn nicht ...
Ja, wenn nicht ebenso, wie eine Kraft im Schwachen mächtig ist, eine Schwäche im Kraftvollen wohnte, wenn wir uns nicht alle in einem höllischen Durcheinander befänden, in dem man verzweifelt nach der nächsten Hand greift, dass sie einen herausziehe, in dem man leicht ein erschrecktes Gesicht für ein unglückliches nimmt, ein verzweifeltes für eine Grimasse, in dem man hinter dem entsetzten Menschen schon den wahren hervorleuchten sieht, hinter dem wahren schon den vollkommenen, und in dem man gezwungenermassen immer ein Teil für ein Ganzes ansieht.
Wer unter uns lebt nicht mit der fixen Idee, man könne nicht genug Teile und Teilchen sammeln, weil sich das Ganze dann schon von selbst ergibt? Aber war nicht wenigstens das Leben der Tatjana Gawrilowa, dieses gefeierten, reichen, schönen, begabten und klugen Menschen, dieser Frau, auf die alle Gaben in beängstigender Fülle ausgeschüttet schienen, war dieses Leben nicht wenigstens ein Ganzes? Es ist natürlich merkwürdig, dass wir bei allem Glauben an die Möglichkeiten unserer Zeit auch hier ein „Nein“ setzen müssen; aber wir werden sehen, dass auch Tatjana nicht den Gesetzen ihrer und unserer Zeit zu entgehen vermochte, und vielleicht gelingt es uns, schon ein wenig von der Erkenntnis zu erlangen, nach der die Gesetze dieser Zeit erfüllt sein müssen, nach der Übergang zu Gegenwart sich wandeln muss, ehe aus vielen Teilen ein Ganzes werden kann.
Selbstverständlich war Tatjana ihren Zeitgenossen schon dadurch ein Stückchen voraus, dass sie den grössten Teil des europäischen Krieges ausserhalb der Kriegszonen, in Amerika, China, Indien, auf den Philippinen und auf Samoa, zugebracht hatte. Es fehlte dadurch ihrem Wesen ganz jenes Schleichende und Bedrückte, jenes Fresserische und Neidische, das im Durchschnittseuropäer als die Folge seiner unverstandenen und unverdauten Leiden zurückgeblieben ist und aus dem sich die neue Krankheit schon ankündigt ...
Und dafür, dass sie nicht allzu unbeschwert und gewichtlos, allzu ätherisch, ein Mensch ohne Schatten in dieser Welt, einherging, dafür sorgten ihre bunten und in der Mehrzahl trüben Schicksale: Aufstieg und Selbstmord ihres Vaters, des schon fast sagenhaften Kaufmanns und Hasardeurs Alexej Gawrilow, der zum Glück für seine Angehörigen in dem Augenblick zum Revolver griff, als gerade mal wieder sein Vermögen eine phantastische Höhe erreicht hatte, der bald darauf folgende Tod ihrer schwermütigen Mutter, die, eine kleine französische Provinzadlige, den Temperaturschwankungen ihres Schicksals und den Temperamentsschwankungen ihres Gatten nicht gewachsen war. Der Tod ihres ersten Mannes, des berühmten Tänzers Nowrotin, der, kaum mit der Sechzehnjährigen verheiratet, mit hunderttausend Kameraden bei den Masurischen Seen 1914 fiel. Auftauchen und Verschwinden des bekannten französischen Spions Dumesnil, der in ihrem Leben eine sehr bedeutsame Rolle spielte und ihrem Ruf jenes unheimliche Timbre verlieh, ohne das Männer sich nie ganz an eine Frau verlieren, und schliesslich ihre Ehe mit dem weltberühmten Sänger, die nicht lange dauerte, aber für die Ausbildung ihrer Stimme sehr wichtig war. Das alles, das sie nicht gesucht, von dem sie vielmehr gefunden und oft fast verschleppt war, hatte vielleicht nicht einmal so entscheidend ihr Leben beeinflusst, als es ihr Haltung und Zähigkeit und vor allem jenen Humor verlieh, den sie meist sogar ihren eigenen Angelegenheiten gegenüber aufbrachte.
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Für Irma v. Kranebitter waren die Tage nach Egberts Rückkunft sehr festlich. Wie lustig, dass Egbert plötzlich Spass daran hatte, ihre alte, dunkle Kammer frisch zu streichen. Abends, wenn Egbert nach Hause gekommen war, schlossen sie sich beide in dem Zimmerchen ein. Kranebitter bekleidete sich mit einem alten Nachthemd und ein paar kurzen Unterhosen, die Füsse steckten in Malerschlapfen, und um den Kopf hatte er, wie verwundet, einige Taschentücher geschlungen. Irma hatte nichts rechtes Zerrissenes anzuziehen und sass meist auf einem Kistchen, das Kinn in beide Hände gestützt, und schaute zu, wie der Pinsel