Beim feierlichen Abendessen fiel v. Kranebitter durch sein lebendiges Aussehen auf und nahm allgemein sehr für sich ein. Selbst seine etwas kindlichen, monarchistisch-feudalistischen Ansichten gewannen durch die Frische und Überzeugtheit, mit der sie vorgetragen wurden. Seine grenzenlose Wut auf den Bolschewismus wurde teilweise von den Schweizern gebilligt, andernteils schrieb man sie der Herbheit seines Schicksals zugute. Schliesslich war es doch für einen baltischen Adligen nicht einfach, eine untergeordnete Stellung zu bekleiden!
Erwähnenswert ist, dass v. Kranebitter bei diesem Abendessen zum ersten Male in seinem Leben mit seinen eigenen Ansichten nicht mehr ganz übereinstimmte. Er hielt einmal mitten in einem der schematischen Ablehnungssätze inne, besann sich einen Augenblick, errötete und stotterte ihn zu Ende. Es dämmerte ihm in dieser Sekunde, dass es keinen Sinn habe, zu wiederholen und immer wieder zu wiederholen und sich in der eigenen Bitterkeit zu wälzen.
Das wurde nachher noch sehr verstärkt. Die Frau des Direktors Werle, eine kluge und frische Sechzigerin, nahm Egbert nach dem Abendessen ein wenig beiseite. Und unter ihren nüchternen Fragen wurden verschiedene seiner bisher selbstverständlichen Voraussetzungen etwas wankend. Hatte v. Kranebitter wirklich so viel durch die Bolschewisten eingebüsst? „Ein leichteres Studium und einen Sommeraufenthalt im Jahr beim ältesten Bruder“, stellte Frau Werle mit liebenswürdigem Nicken ihres weisshaarigen Kopfes fest. „Sie sind ein selbständiger Mann“, lachte sie freundlich. „Gewandt und ganz klug. Was schauen Sie rückwärts? Ich habe Sie bei Tisch nicht unterbrochen. Ihre Anklagen mögen berechtigt sein. Über Ihre Ansichten kann man vielleicht streiten. Beide stehen aber für Ihr Leben nicht zur Diskussion, beide sind für Sie unfruchtbar. Wenn ihr Emigranten wirklich zu Unrecht aus eurem Land herausmusstet, so könnt ihr das nur beweisen, indem ihr in der Fremde etwas leistet.“
Das leuchtete Egbert eigentlich ein. Er nickte höflich vor sich hin. „Übrigens,“ schloss Frau Werle lachend das Gespräch, „soll man sich bei erlittenem Unrecht sehr in acht nehmen. Man dreht es am besten dreimal in der Hand um, ehe man es als bare Münze ausgibt.“
Auf der Rückfahrt erschien Egbert dieses Gespräch, das er sich am gleichen Abend notiert hatte, als das wichtigste Ergebnis von Zürich. Er musste viel darüber nachdenken. Selbst der Rheinfall von Schaffhausen, über dem ein Laubwald in grellen Farben stand, konnte ihn nicht aus seinen Gedanken reissen. Es schien ihm nach diesem Gespräch leichter, wieder in die Courbièrestrasse zu gehen. Er hatte sich wahrhaftig ein bisschen davor gefürchtet. Vor Irma auch? Ja, vor Irma auch, obwohl sie ihm schon oft das gesagt hatte, an das er sich nun herangrübelte.
Die Nacht der Rückfahrt war so unruhig wie die der Hinfahrt. Aber der Zug war leerer. In den Gängen beispielsweise war kein Mensch. So konnte v. Kranebitter mit den Schritten eines Seemanns tastend und tappend den Zug von einem Ende zum anderen durchmessen. Bis zu den Schlafwagen freilich nur. Aber das genügte auch. Es war ihm ein besonderes, merkwürdiges Gefühl, gegen die Fahrtrichtung anzugehen, der nach rückwärts entlaufenden Landschaft zugewandt.
Wäre er ein Dichter gewesen, so hätte er in einem Blicke die Ohnmacht des menschlichen Willens gehabt. Gegen die Fahrtrichtung: es vermindert nur um Sekundenbruchteile das Fortgerissenwerden. Mit der Fahrtrichtung: man kommt nicht eher an.
Da er aber kein Dichter war, begann er zu ahnen, dass nur und allein der menschliche Wille über das Leben entscheidet. Freilich muss man wissen, wann man ihn einzusetzen hat. Mitten in der Fahrt anhalten wollen: dann muss man schon die ganze Maschinerie beherrschen.
Zunächst jedenfalls hatte v. Kranebitter im Einschlafen den Entschluss gefasst, sein Leben mit festem Willen anzupacken und sich ein wenig mehr um die Zukunft als um die Vergangenheit zu bekümmern.
Er begann damit, sich aus den Kreisen der Emigranten zu entfernen. Wie sehr er sich dadurch auch von anderen Menschen unterscheiden musste (und dass die Emigranten mit ihrem Sonderschicksal sich von den anderen Leuten dieser vom Krieg geschüttelten Länder nicht sonderlich unterschieden), musste er ein wenig später hart und gefährlich erfahren.
4.
Am Morgen um sechs Uhr lief der Zug in Stuttgart ein. v. Kranebitter verliess mit vielen anderen seinen Wagen, um eine Tasse jener braunen Brühe zu erwerben, mit der die Bahnhofswirtschaften den heiligen Namen des Kaffees schänden. Egbert stand gähnend und natürlich rauchend mit etwas zusammengekniffenen Augen im Haufen der Andrängenden, die er um Kopfhälfte mindestens überragte, und ärgerte sich über einen kleinen, schmalen und eleganten Herrn, der mit auffälliger Erbitterung sich an den Ausschank heranarbeitete. Er hatte schliesslich zwei Tassen erobert und schraubte sich nun durch die Menge zurück. Einer der Wartenden stiess ihn, wahrscheinlich nicht unabsichtlich, so dass sein heller Staubmantel mit Kaffee überschüttet wurde.
Der Herr schien es kaum zu merken, da im gleichen Augenblick eine lustige Frauenstimme aus dem gegenüberhaltenden Schlafwagen scholl – eine jener seltenen Stimmen, die hell und nicht gequetscht, hoch und mühelos, kraftvoll und nicht schrill sind. „Vite vite, Prantikoff!“ rief die Stimme „oh quelle soif!“ und gleich darauf wie ein kleines Kind, das eben eine Vokabel gelernt hat, Deutsch mit russischem Akzent: „Dürrstig! Dürrstig!“
Diese Stimme vermochte nicht nur den auf den Namen Prantikoff hörenden Herrn zu äusserster Kraftanstrengung zu begeistern, so dass er sich wie ein Hecht springend gegen die Letztstehenden warf, und da er nicht ganz das erwartete Hindernis fand, mehr ins Freie taumelte, als er wollte, und beinahe zu Boden geglitscht wäre ... diese Stimme riss auch die Gesichter aller Kaffeegierigen wie an einem Faden herum.
Viel war allerdings nicht zu sehen. Aber Egbert wusste sofort, dass er diese hellblauen Augen in Verbindung mit schwarzen Haaren auf dem Zürichsee gesehen hatte, und so stimmte er in das fröhliche Gelächter der Umstehenden ein, die teilweise über den taumelnden Prantikoff grinsten, teilweise sich an der lustigen Stimme erfreuten.
Nachher, in der Weiterfahrt war Egbert doch ein wenig unruhig. Wie merkwürdig, dass diese Frau im gleichen Zuge sass! Wie komisch, dass sie mit ihrem lackroten Kanu nicht zum Zürichsee gehörte! Dann konnte ja derlei Überraschendes genau so gut am Wannsee geschehen wie am Zürichsee. Dann machte es nicht die Landschaft, nicht die Gegend, ja dann konnte das Ungewöhnliche an jeder Strassenecke stehen und das Abenteuer aus jeder Sekunde sprühen.
v. Kranebitter hatte damit etwas Wesentliches erkannt. Er wusste bereits – ein wichtiger Schritt – von der Allgegenwart des Ungewöhnlichen. Nur noch ein Schritt, so war er an der Stelle, wo man ergreift: Dieses Ungewöhnliche ist im grossen und ganzen ein Phantom, eine Fata Morgana, die nur in Wüsten vorkommt. Es ist wesentlich nur für unsichere Kantonisten. Um das Gewöhnliche und Gegenwärtige geht der Kampf. Der Lebendige braucht keine Abenteuer, weil er ein Schicksal hat.
Die Ankunft in Berlin war ungemütlicher, als v. Kranebitter es gewünscht hatte. Die aufrichtige Freude Irmas, die sich wie immer in einem ungeduldigen Scharren mit dem linken Fuss äusserte, war da und das Kopfnicken und strahlende Aufschauen. Aber v. Kranebitter musste sich über den Kopf seiner Frau hinweg umsehen, ob er nicht die hellbraune Frau erblicken könne. Er hätte sie doch zu gerne in ganzer Figur gesehen. Er hätte auch gerne gewusst, wie sie ging.
Um das alles zu erfahren, hätte er nur ein wenig nach vorn zu schauen brauchen. Da stand nämlich Tatjana im Schutze einer Sandsteinsäule und sah sich (auf alle Fälle) den Riesen vom Zürichsee einmal an. Auch von seiner Frau versuchte sie etwas zu erspähen. Aber sie sah nur ein paar Reiherfedern auf und ab nicken und einen grauen Mantelkragen, der neuer und hübscher hätte sein können. Tatjana holte zum Arger Prantikoffs, der missmutig und verschlafen war und jedes Ankommen sowieso verabscheute, ihr Lorgnon hervor. Ja – der Schnurrbart war auch bei vollständigem Anzug nicht schön. Seine slawische Wehmut hätte man entbehren können. Der Schnurrbart (räsonierte sie für sich) gibt dem Gesicht den Zug von oben nach unten. Das Gesicht ist aber von unten nach oben gebaut. Wird aber – schade! – nicht so getragen. Gewicht des Gesichtes liegt doch gar nicht im Kinn, sondern in den Augen. Eigentlich möchte die Stirn tragen. Kann aber nicht. Muss auch nicht. Augen liegen wie in einem Tal. Rundum eingefasst von den vorspringenden Backenknochen und den Stirnknochen.