Der Eine und der Andere. Walther von Hollander. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Walther von Hollander
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711474532
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jetzt eine Art Repräsentationsposten inne, zu dem ihn wohl sein Name, aber nicht seine Kleidung und auch nicht sein etwas stöckriges Benehmen befähigte.

      Er fühlte sich zuerst sehr unbehaglich dabei, war ein paar Tage zu Hause grenzenlos gereizt und unliebenswürdig und gewöhnte sich dann. Er machte seine Sache sogar vorzüglich. Aber er wusste das nicht. Wer hätte ihm das auch wohl sagen sollen? Die Direktoren hüteten sich, ihn zu loben, weil sie glaubten, sie würden die ausgezeichnete Kraft dann nicht so billig behalten können, und die Frauen zu Hause verstanden und wussten von seiner Tätigkeit so viel wie ein Deutscher von Politik.

      In den Oktober 1924 fiel v. Kranebitters Reise nach Zürich. Das kam ganz plötzlich. Von heute auf morgen musste er reisen. Pass und Visum waren durch die Empfehlung des Werkes in einem Tage besorgt worden, und Kranebitter fuhr abends mit einer Aktentasche der Direktion, in einem binnen vierundzwanzig Stunden auf Geschäftsunkosten gefertigten Anzug und Mantel, mit einem bis ins Kleinste durchgesprochenen Auftrag, ab.

      Wie er so am Fenster des Zweiterklasseabteils lehnte, den schwarzen, kleinen Hut etwas schief in die Stirn gedrückt, den Kragen so hoch geschlagen, dass gerade noch die ewige Zigarette hinausschauen konnte, ähnelte er, wie Frau v. Kranebitter gerührt feststellte, ganz genau seinem seligen Vater. Tante Lisa, die gleichfalls voll Stolz auf den „fixen Jungen“ sah, blieb auch in diesem Augenblick dabei, dass das lange schmale Gesicht der Hollschen Familie zuzuschreiben sei, während die kleine Irma, die heute zum ersten Male ein kleines, schwarzes Seidenhütchen aufhatte, um das sich einige sparsame Reiherfedern in bizarren Linien sträubten, ihr Gesichtchen angestrengt zu ihrem Mann aufgeschlagen hielt und ihn in der seltsamen Mischung aus Frage und Bereitschaft, aus Lächeln und Fremdheit anschaute, mit der sie immer bei ihm war.

      Seltsamerweise stieg Egbert, als die Schaffner bereits mit den Türen zu klappen begannen, noch aus dem Wagen, hob Irma hoch und hielt sie lange und sanft an seiner Brust. Das war bei diesem Menschen, der jede Zärtlichkeit in Gegenwart Dritter verabscheute, ein ganz ungewöhnlicher Vorgang. Tante Lisa wandte sich auch errötend ab und vergass beinahe zu winken. Ihr Taschentuch begann erst zu flattern, als der Zug sich um die erste Ecke krümmte.

      Die drei gingen dann zu Fuss nach Hause. Erstens sparte man Geld. Dann aber war dieser Abend von sommerlicher Milde. Bei Josty sassen die Menschen dicht gedrängt im Freien, und in der Tiergartenstrasse schnurrten die offenen Autos über den blanken Asphalt, klapperten die alten Spazierfahrtdroschken, schob sich eine Schlange von Menschen in die Alleen, die nach warmem Nebel und erstem Laubfall rochen.

      Irma fühlte sich zum ersten Male in ihrem Leben glücklich. So war also doch mehr an der Liebe dran, als sie vermutet hatte! Wie warm konnte ein Herz klopfen! „Nun fährt er schon“, murmelten die beiden Alten andächtig und nahmen Irma in die Mitte.

      Zu Hause zog sich Irma sofort zurück. Sie legte sich aus Spass heute nicht in ihr Bett, sondern richtete mühsam Egberts Lager her, legte sich ihr Kissen noch auf Egberts Kissen und lag so, den Kopf sehr hoch gestützt, eine ganze Weile im Hellen. Sie konnte beim besten Willen nicht schlafen. Es war so wehmütig allein und doch wieder auch schön. Es fehlte etwas, aber es war auch etwas da, was sonst fehlte. Sie konnte so richtig vor sich hinlieben, ohne Gefahr, den grossen Mann bei seinem Lesen, Rauchen oder Starren zu stören. Als sie gegen zwölf noch immer nicht schlafen konnte, wurde es ihr ungemütlich. Es war auch so heiss. Schliesslich kroch sie beschämt in ihr Bett zurück, löschte das Licht und steckte sich eine Zigarette an. Sie rauchte sonst selten, und es schmeckte ihr nie. Aber es schien ihr nun schön zu sein, auf den Glutkern zu starren, und ausserdem verbreitete sich bald jene Luft im Zimmer, die ihr die Schlafluft zu sein schien.

      v. Kranebitter, für den diese Reise die erste Unterbrechung seines fast fünfjährigen Berliner Aufenthaltes war, verbrachte die Reisenacht ausserordentlich erregt und unruhig. Gut nur, dass er seinen Platz an der Gangtür hatte. Denn sonst hätte es bestimmt einige heftige Proteste gesetzt, die sich bereits bald hinter Wittenberg in einem scharfen Knurren seines Gegenübers ankündigten.

      Egbert brachte daraufhin die meiste Zeit stehend am Gangfenster zu. Es tat ihm unbeschreiblich wohl, dass da Bäume waren und Gärten, Wälder und ein Fluss, Häuser, einzeln und in kleinen Rudeln. Gott ja, dachte er, es gibt eine Welt! Es standen Tränen in seinen Augen. Der Mond kam mit grossem Nebelhof über einem unbekannten, schwarzen Wald herauf. Die Landschaft blieb eine Weile zwischen rotem und silbernem Licht in undurchsichtiger Dämmerung. Dann schoben sich die Schatten unter dem zunehmenden Mondlicht zusammen. Es gab den milden Gegensatz zwischen Dunkel und Licht, in dem die Farben verschwimmen und die Töne besonders gut durchdringen. Einmal hörte Kranebitter ein Pferd, das dicht an der Eisenbahnschranke stand, durch das Klirren und Stampfen der Räder schnauben.

      Das erschütterte ihn ganz unmittelbar. Nicht – wie man denken sollte – als Jugenderinnerung, sondern vielmehr, weil da gar nicht zusammengehörige Sachen auf ihn zustiessen, Landschaft, Mond und Pferd, das alles stillstand, und Egbert, Zug und Wunsch, das alles davonlief. So – meinte es ganz jungenhaft in ihm – müsste das Leben sein. Gleichzeitig: Zusammenstoss ganz fremder Dinge und Vorbeistreifen an dem stets ganz anderen. Und dann (aber das blieb natürlich ganz innen bei ihm, und er hätte es, wie immer, nicht benennen können) müsste, da das Fremde ja heransauste mit dem Willen, den Menschen zu zersprengen, müsste eine Kraft da sein, Fremdes und Eigenes (wir hätten gesagt: Welt und ich) zusammenzufügen. Woher diese Kraft kommen sollte, hätte er nicht sagen können. Kraft im Menschen selbst, das hatte er nicht erfahren und wusste nichts davon.

      Es kam jedenfalls in dieser Nacht der einfache Gedanke nicht mehr zur Ruhe, dass er eiligst „etwas erleben“ müsse, gleichgültig was. Er dachte dabei gar nicht an seine Frau. Im Gegenteil: ihm als „verheiratetem Manne“ lag derlei traditionsgemäss sehr fern. Einige seiner Kameraden bekannten sich zwar zu „modernen Ideen“ und lebten danach, aber die ganze Betrügerei, das Heimlichtun, das er da immer sich entwickeln sah, war nichts für Egbert. Eine Frau? Das war nun Irma. Punktum!

      Gegen vier Uhr schlief er für eine halbe Stunde ein. Aber die Welt, um Gottes Willen die Welt! dachte er, als er bei einer Weiche aufwachte. „Die Welt,“ murmelte er und stampfte wieder im Gang auf und ab, „die Welt wartet nicht auf dich.“ Der Mond draussen war im Untergehen. Es wurde noch einmal dunkel zwischen Mond und Sonne.

      3.

      Die Herren, mit denen Egbert in Zürich zu tun hatte, empfingen ihn selbstverständlich als einen gesellschaftlich und geschäftlich gleichstehenden Mann. Sie wussten ja nicht, dachte Egbert verstohlen, dass er in einer winzigen Kammer in der Courbièrestrasse mit seiner Frau hauste. Übrigens war der junge Herr Stepptar, mit dem Kranebitter zuerst zu tun hatte, gleichfalls ein Neuling, der seine erste selbständige Verhandlung leitete. Die überhöflichen Verbeugungen dieser beiden jungen Männer voreinander zeigten also weniger Hochachtung an als Angst. Egbert ging aber bei dieser und bei allen folgenden Unterredungen nach kurzer Einleitung ganz gerade auf sein Ziel los, was ihm auf der Gegenseite den Ruf eines scharfen Kontrahenten eintrug und was die ganze Angelegenheit in zwei, statt, wie vorgesehen, in vier Tagen zu Ende brachte. Kranebitter drahtete seine Ergebnisse an die Direktion nach Berlin und gönnte sich noch einen Tag Zürich. Abends musste er sowieso mit den Vertragsgegnern speisen.

      Den Vormittag über war Egbert am Mythenkai, dort, wo die Terrasse so weit in den See springt. Er hatte sich lang auf eine Bank gelegt unter dem Laubdach einer Traueresche, die sich manchmal in dem sanften Wind duckte und zuweilen mit den äussersten Enden ihrer gebogenen Zweige das Wasser streichelte. Durch die Zweige sah er den See, der, von Möwenschwärmen überwimpelt, von Booten und Dampfern befahren, von Sonne beglänzt, lustig und festlich aussah. Die Stadt mit den breiten Hotels, mit den Luxusvillen am Wasser und den Steilstrassen darüber, der Blick über den See, über die Dörfer am Rand bis zu den blauen Hügeln und weissen Bergen, das alles kannte Egbert aus Abbildungen, die seine Eltern von der Hochzeitsreise mitgebracht hatten. Er erinnerte sich genau an das Album, das in lila Samt mit dem eingepressten Wappen der Kranebitters auf dem Marmortisch im Salon in Schledden gelegen hatte. Ausserdem hatte er Zürich einmal in einem Kaiserpanorama gesehen, einer Art Guckkastenrotunde, an deren Ferngläser man die Augen gepresst halten musste, während mit allerlei Klingelzeichen eine Reihe von plastischen, bunten Bildern am Beschauer vorübergezogen wurde. Das war in Dorpat gewesen,