v. Kranebitter war sehr unruhig. Sonst wusste er nichts. Es ging ihm im Seelischen noch so, wie es fast allen unter uns im Körperlichen geht. Die Kämpfe und das scharfe Gegeneinander, das Auf und Ab der Mikroben, der Bazillen, der Würmer, wir spüren nur wenig, wir wissen fast nichts davon und sind noch immer dem ausgesetzt, was „es“ mit uns anfangen will.
Egbert nahm sich ein Boot und fuhr hinaus. Seine breiten Hände legten sich gut und stark um die Ruder. Endlich wieder hob sich die mächtige Brust zu grossen Atemzügen, spannten sich die schlaffen Arme. Ein Ingenieur, fiel ihm ein, was für ein Unsinn; ein Ingenieur mit Reissbrett, Zirkel und Repräsentationsmappe. Er legte Hut und Rock auch noch ab, ja, nachdem er das Boot weit in den See getrieben hatte, wagte er es, sich auszuziehen und aus dem Hemd eine Badehose zu knüpfen. Hammer, Nagel und Spaten – murmelte er weiter – konnte er das handhaben? Das mochte noch gehen. Aber konnte er ein Auto bauen, ein Flugzeug steuern? Theoretisch konnte er das natürlich. Aber praktisch? Nein, da konnte er nur elektrische Maschinen konstruieren, Töpfe, Kocher, Röster, Wärmeplatten. Konstruieren? Aufzeichnen und ausrechnen. Aus!
Mit einem Seufzer zog er die Ruder ein, legte sich ins Boot und liess sich treiben. Seine Haut begann in leichten Perlen zu schwitzen. Einmal kam mit Winken und Juhu ein Dampfer vorüber. Das Boot tanzte in den Wellen der Schiffsschraube. Dann trieben Wind und Welle das Boot gemächlich seewärts. Die Möwen gewannen Vertrauen und fuhren flattrig dicht am Boot vorbei. Ganz fern heulte eine Fabriksirene die Mittagspause ein.
In diesem Augenblick tauchte am Horizont das Kanu Tatjanas auf. Von weitem sah es aus, als flitze ein bunter Farbstrauss über das Wasser. Das Kanu war hellrot und glänzend lackiert, das Ruder schwarz, als gelte es, „eine Leiche zu spedieren“. Tatjana hatte einen daunenfarbenen und daunenleichten Filzhut auf, der, durch ein Band an den Rändern gebogen, das zierliche Oval des Gesichtes einrahmte. Über das Vorderteil des Kanus war sorglich und goldbraun Rock und Jackett gebreitet.
Das alles sah man von weitem. Erst der Näherkommende hätte erkennen können, dass Tatjana im Augenblick nur mit einem nilgrünen Schwimmhöschen bekleidet war. Herrlich stand dieses zarte Grün zu dem Braun der Haut, das am ehesten an das Braun junger Haselnüsse oder eben aufblühenden Goldlacks erinnerte. Auffällig und ziemlich weit sichtbar, wie kleine Gefahrsignale, leuchteten die hellroten Knospen ihrer Brüste.
Tatjana hatte sich ein wenig in ihrem Sonnenbad im Uferschilf verspätet. Sie paddelte darum eilig und eifrig und hatte mehr der wirklich heftigen Wärme wegen als aus Gründen der Verliebtheit in sich selbst ihre Bekleidung bis auf die Kleinigkeit abgelegt. Sie hatte das Kanu Egberts schon eine Weile gesehen. Aber da sie mehr rechts und links sehr ausser Kurs kam und dort auch sichtbar bemannte Boote auftauchten, empfahl sie sich mit einem Stossseufzer ihrem gewohnten Glück und versuchte in scharfem Schwung an dem „verschlafenen“ Boot vorbeizukommen.
Wahrscheinlich nun hatte Egbert das Kanu kommen hören. Jedenfalls tauchte er, als nur noch wenige Meter die Boote trennten, riesig und geblendet aus seinem Fahrzeug auf, golden die Kinderhaare beschienen und den Mund nicht sehr klug aufgerissen. Egberts Auftauchen und Tatjanas Schreck mussten die Fahrtrichtungen stark beeinflusst haben. Denn Tatjanas Kanu streifte langsam und knirschend an Egberts Boot vorbei, und die beiden Fahrzeuge gerieten in ein leises Schwanken und Zittern. Einen Augenblick sahen die beiden sich ganz nah und erstaunt an, blitzten die Zornaugen Tatjanas hellblau und scharf in die schläfrigen Staunaugen Egberts, spürte Egbert den Atem der Frau wie warmen Wind auf seinem Gesicht, fühlte Tatjana sich doch ein wenig schwach in der Überrumpelung, wurde Egbert vor Verwirrung weiss wie ein Taschentuch. v. Kranebitter meinte, er müsse nun wohl etwas sagen, was einer Entschuldigung ähnelte, da man doch (warum fuhr ihm das gerade durch den Kopf, während er entzückt das Hellbraun der untadeligen Brüste anstarrte?), da man doch als Mann auch dann um Entschuldigung zu bitten habe, wenn einem eine Frau auf die Füsse tritt, oder aber vielleicht müsse er auch nur die Frau beim braunen Fell packen und ins Boot herüberziehen. War das das Richtige? Egbert wusste es nicht.
Tatjana hätte eigentlich, als sie den hübschen, maulaufreissenden Kerl da vor sich sah, erstmal heftig lachen müssen, dann aber gewann sie schnell ihre Tatkraft wieder, und indem sie sich sagte, dass unter den gegebenen Umständen der Rücken weniger anstössig sei als die Vorderseite, hatte sie ihr Boot in ein paar derben Schlägen ein ganzes Stück weggebracht. Einmal musste sie sich noch vorsichtig umdrehn. Ja, um Egbert besser beobachten zu können, legte sie den Hut ab und enthüllte damit erstaunlicherweise nicht, wie man ihrer ganzen Erscheinung nach hätte vermuten müssen, blonde Haare, sondern ein entzückendes Durcheinander blauschwarzer Locken und Strähnen. Sie schüttelte und strich die Haare ein wenig zurück und sah sich dann einfach und ohne Umstände um. Da sie aber ein wenig kurzsichtig war, konnte sie nur noch die Umrisse eines Manneskörpers erkennen und das Weisse eines starren Gesichts. Erstaunt stellte sie dabei fest, dass sie in den zwei Sekunden der Begegnung sich das Gesicht recht gut gemerkt hatte.
Wie komisch (lachte sie), ein Schnurrbart an einem nackten Mann! Er hatte wie ein Vollblutpferd ausgesehen, das man ans Schiessen gewöhnt. Selbst die Ohren, die übrigens, wie ihr aufgefallen war, eng und unten angewachsen, den Kopf umsäumten, hatten sich gesträubt. Schliesslich, da sie am nächsten Tage abreiste, war die ganze Sache eher lustig als peinlich, und nachdem sie nun doch eine zarte Hemdhose und ihr braunes Kostüm unter einigem Ächzen und Stöhnen und in steter Gefahr zu kentern angezogen hatte, nahm sie eiligst ihre Fahrt wieder auf. Prantikoff würde schon wieder eine halbe Stunde lang mit vorwurfsvoll gereckter Armbanduhr am Ufer stehen.
Egbert sah noch eine Weile dem roten Boot nach. Am besten gefiel ihm eigentlich die tänzerische Leichtigkeit, mit der dieses braune Wesen ihre Ruder rechts über links, rechts über links eintauchte. Man sah dem glatten Rücken keine Anstrengung an. Kaum, dass sich die Schulterblätter unter der Haut abzeichneten. „Das ist wirklich graziös,“ murmelte er und wandte sich wieder dem See zu, der immer blendender und heisser wurde. Der Sonne gegenüber waren die Ufer ganz dunkelblau. v. Kranebitter streckte sich behaglich im Boot. Er lächelte. Was so alles, dachte er, sich in der Welt herumtreibt. Dann schlief er ein und endete so eine erste Begegnung, die, wie sich bald herausstellte, zu den einschneidendsten Eindrücken seines Lebens gehörte.
Es gibt für diese Art, Empfindungen zu empfangen und zu verarbeiten, schlechterdings keine Erklärung, wenn man dem folgen will, was die grosse Masse einer Übereinkunft zufolge glaubt oder gar zu glauben verpflichtet ist. Hier hätte doch ein elektrischer Schlag aufzutreten, hier hätte das ersehnte Ungewöhnliche eine heftige und langandauernde Erschütterung hervorzurufen.
Es ist natürlich oberflächlich, wenn wir für die Gefühllosigkeit v. Kranebitters seine Dickfelligkeit und sein schweres Blut als Erklärung heranziehen. Tun wir das nicht, so bleibt nur, die seelischen Ereignisse für eine zarte, vibrierende Substanz zu nehmen, deren Wirkungskraft zwar sehr gross ist, deren Wirkungsschnelligkeit man aber auf Kosten ihrer anderen Eigenschaften überschätzt hat. Stimmte das, so liessen sich oft erst nach Jahren die tatsächlichen (seelischen) Folgen eines Ereignisses, einer Handlung abmessen, und wir lebten gegenwärtig oft unter einem Vergangenen, das uns schon verblasst erscheint, während der Schlag, zu dem die Gegenwart gerade ausholt, uns erst nach Jahren treffen wird.
Das klingt fürs erste etwas merkwürdig und hat manches gegen sich. Aber ich ziehe es auch nicht zu meinem Vergnügen heran oder Haarspaltens halber, sondern im ehrlichen Bemühen, das Leben einiger Menschen eine Strecke weit erklärend zu begleiten.
v. Kranebitter, der also auf jeden Fall nicht ahnte, was ihm zugestossen war, landete sehr frisch und verhältnismässig vergnügt um fünf Uhr wieder am Mythenkai. Es war schon merklich kühler, und