Zwar habe ich am Abend des Sonntags endlich eine Stelle im Evangelium gefunden, die wenigstens mein Beten rechtfertigt und die es mir leichter machen müßte, mich Gott so anzuvertrauen, wie es einem gläubigen Katholiken geboten ist. Es ist die Fortsetzung der Bergpredigt im Evangelium Matthäus, sechstes Kapitel. Es beginnt gut und mit väterlicher Stimme (nicht himmlisch väterlich, sondern irdisch väterlich – wie ein Vater, der Onderkuhle kennt und mich): »Und wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schleuß die Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen. Und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird's dir vergelten öffentlich. Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe denn ihr ihn bittet.« Darauf folgt das Vaterunser im Evangelium.
Ich bin nach dem Abendbrot, von allen allein gelassen, unter höflichem Grüßen in mein leeres, bläulichdunkles Zimmer zurückgekehrt. So liege ich auf den Knien wie ein hingeworfenes Bündel alter Kleider, in das sich die Katze oft verkriecht, wo sie sich anschmiegt und sich wohl fühlt. Aber ich habe nicht die Kraft, ein Ende zu machen. Ich schlafe in dieser unnatürlichen Stellung ein und erwache am Morgen in derselben und gehe an meine Arbeit, eine Schwimmlektion an Stelle des Kapitäns zu erteilen. Meine Lippen beten noch immer weiter, als hoffte ich, noch auf der Treppe, zwischen den Zöglingen in den Frühstückssaal hinabeilend, den Sinn dieses Gebetes zu erfassen. Ist es ein Gebet erst für Männer? Ist es eines für schwer arbeitende Menschen? Ist es für Dienende? Haben meine Vorfahren nicht gebetet? Das einzige, was ich verstehe, ist das Wort vom täglichen Brote. Nicht für mich muß ich das beten, sondern für meinen Vater. Es ist alles stumm um ihn, kein Brief von ihm liegt auf dem Frühstückstische.
Lebt er in Not? In Sorgen? Schuld hat er nicht, an keinem Menschen, eher haben sie schuld an ihm. Führe uns nicht in Versuchung! So tief bin ich versunken in meinen Entscheidungskampf zwischen T. und Leben, daß mich nichts in Versuchung führen kann. Einzig das Übel verstehe ich, einzig um die Befreiung davon müßte ich beten, wenn ich glauben könnte.
Reich, Kraft, Herrlichkeit, daran teilzunehmen, auch nur in Gedanken, welche Hoffnung! Aber ich kann nichts hoffen. Man kann Großes nicht leisten ohne Hoffnung, man kann nicht einmal im Mittelmäßigen bestehen, wenn man überall die Fingerabdrücke des T. sieht und sich ihnen nicht entziehen kann. Ewigkeit! Dem Kosmos gegenüber sich zu behaupten, dem Unendlichen sich als mutiger Aristokrat zu stellen, ich begreife, wie erlösend das wäre, befreiend, ein reines Glück. Aber gerade, daß ich es weiß und daß ich darum kämpfe, macht mich schwach statt stark. Ich habe Angst vor dem T. Ich gehe den falschen Gang wie Cyrus in der grünen Reitschule. Warum faßt mich niemand und führt mich, besser, als ich mich selbst führen könnte?
Kapitel Sechzehn
In den guten Tagen des Lebensübermutes ist es mir eine besondere Freude, vom höchsten Sprungbrett, das sich etwa sieben Meter über dem Wasserspiegel der Schwimmschule erhebt, herabzuspringen. Kerzengerade oder in einer geschmeidigen Kurve im Hechtsprung. Hauptsache ist, während der wenigen Sekunden des Falles das Gleichgewicht zu bewahren. Sich zu beherrschen, während man fällt. Die Höhe ist fast gleichgültig. Eine andere Kunst ist das Springen mit Schneeschuhen, das wir hier nicht üben können, da in Onderkuhle weder Schnee jemals genügend hoch liegt, noch ein genügend steiler Abhang existiert. Wenn es dem Skimeister von Norwegen gelingt, von einer haushohen Schneeschanze herabzuspringen, so kann ein guter Schwimmer oder Taucher auch seine zehn und selbst zwanzig Meter in aller Sicherheit hinabspringen und während dieser Sekunden alles Glück des Durchmessens leerer Räume erleben.
Nicht viel anders kann es sein, sich im T. in den leeren, bodenlosen, vor uns sich auftuenden Weltenraum hinabzustürzen oder sich in ihm zu erheben, denn dies ist das gleiche.
Fürchterlich aber ist es, wenn einer wie ich zu diesem Sprung in Angst ansetzt, wenn ihm die Beine den Dienst versagen, wenn er wie ein regennasses, nicht flügges Vögelchen trotz seines geringen Gewichtes schwer vom Zweig wie ein Stück Blei niedersinkt. Unten aber langt der feige Springer unter wütenden Schmerzen an und empfängt von der Wasserfläche eine gewaltige Tracht Prügel. Das darf nicht sein. Was der Mut nicht kann, kann der Wille. Ich beiße die Zähne aufeinander, nehme meine ganze Kraft zusammen und springe kerzengerade mit aussetzendem Herzen in die Tiefe zu meinen sich im Wasser tummelnden Kameraden. Sie werfen sich auf die Seite und auf den Rücken, weichen mir weit aus und umrauschen mich beim Auftauchen mit fröhlichem Lärm. Sie bewundern mich ehrfürchtig, nicht wissend, daß meine ganze Feigheit nötig war, um mir so viel Mut zu machen.
Ich weiß genau, die Proben, die in der Bändigung des Cyrus und in der Lebensrettung Titurels lagen, sind mir nicht gelungen, oder, wenn sie gelungen sind, waren sie nicht entscheidend. Aber diese kleine Überwindung im Sprung von sieben Meter Höhe hat mir wieder etwas Selbstbewußtsein gegeben.
Um wieviel ist der Meister mit seinen grauen Haaren dem Tode näher, und doch beherrscht er dies wie alles hier. Er ist es nicht, der am besten rechnen kann, und doch hat er den höchsten Ökonomieposten hier inne in unserm kleinen Reich. Ihm zur Seite steht der Rendant, ein ausgedienter, aber unverwüstlicher Beamter, der daheim sieben Kinder zu ernähren hat. Für diese lebt er. Er spart hier jede, auch die kleinste Summe zusammenbricht sogar die Zigaretten, die er raucht, in zwei Teile, bevor er sie zwischen seine Lippen steckt, die wie aus braunem Papier gebildet scheinen. Mir ist nicht klar, ob die Roulettuhr, die seit einigen Tagen im Schlafsaal der »Fünften« auf dem Bette eines Kameraden rotiert, durch ihn oder durch den Meister eingeschmuggelt ist. Ich traue es dem Meister zu, daß er die schlechten Instinkte der Zöglinge ausnützt, um Vorteile zu gewinnen, ebenso auch dem Rendanten, daß er sich kleine Nebengewinne, sei es mit oder ohne Duldung des Meisters, nicht entgehen lassen will. Mir ist Geld etwas Fremdes.