So fahren wir wortlos gegen die Pappeln hin, die sich im Gewitterwinde beugen, durch die bekannte Lindenallee, deren Bäume sich ins Unabsehbare vermehrt zu haben scheinen. Der Regen, der von den honigfarben überblühten Zweigen herab mir in den Mund und ins Gesicht strömt, schmeckt nach Lindenblütenduft, nach kühlen, blumenhaften Essenzen.
Mein Freund ist ganz erwacht und erwärmt. Er richtet sich auf, blickt umher und schlingt des Meisters Mantel enger um sich.
Inhalt
Kapitel Fünfzehn
In diesem Augenblick des unvergeßbaren Junitages, des 19. Juni 1913, ist der Höhepunkt meines überstarken Lebensgefühls überschritten, und es beginnt, was natürlich und doch so schwer zu ertragen ist, der Übergang in die Zeiten des T. Ich wehre mich dagegen. Ich kämpfe. Aber sagte ich es nicht schon bei der Bändigung des Cyrus, daß er kämpft, macht ihn wehrlos? Kann das sein? Doch ist es so.
Nun bin ich mit meinem Freunde Titurel nach Onderkuhle zurückgekehrt. Daß ich ihn gerettet habe, dankt mir niemand. Die offenbare Ungerechtigkeit stimmt mich aber mutig. Bloß gegen Güte, Milde und Weichheit bin ich wehrlos. Aber weder der Abbé noch der Direktor haben in dem Ganzen etwas anderes gesehen als Fahrlässigkeit. Daß sich Prinz Piggy über den kühlen Empfang freut, kann mich nicht wundern. Bloß einer hält zu mir, der Meister, der mir ein Zeichen mit seiner Hand gibt, die mit einem edlen grünen Ring geschmückt ist.
Aber was sind sie mir alle, der Abbé und Piggy, der Direktor und der Meister? Ich werde sie übersehen und mich stumm lächelnd von ihnen abwenden. Aber etwas anderes trifft mich schmerzlich. Ich kann es nicht übersehen, ich kann mich nicht stumm lächelnd davon abwenden, wenn Titurel einen kaum unterdrückten Widerstand gegen mich entfaltet. Er wird nichts Ungebührliches sagen, dazu hat er sich, dank seiner Erziehung, zu sehr in der Gewalt. Aber so sehr hat er sich doch nicht in der Gewalt, daß er mir Gerechtigkeit angedeihen lassen könnte. Aber ist es denn Gerechtigkeit, wonach ich mich sehne? Wahre Zuneigung fordert man nicht und gibt sie auch nicht gegen Lohn und gute Gründe. Lieben und Geliebtwerden ist entweder selbstverständlich oder unmöglich. Wozu Worte? Er sagt mir nicht den Grund, ich frage ihn nicht. Hat man mit einem Menschen, einem einzigen Freund, einem unersetzbaren, ich fühle es jetzt, Jahre um Jahre zusammen gelebt, dann versteht man einander ohne Worte, oder man versteht sich trotz aller Erklärungen gar nicht.
Was bleibt mir? Meine Zukunft? Neue Fragen, unlösbare. Meine Eltern, mein Vater, meine Mutter? Ich möchte mit ihnen sprechen, sie grüßen, sie mir nahe wissen, ihnen schreiben, aber es gelingt mir nicht. Ich schreibe Anrede auf Anrede, eine immer zärtlicher als die andere, keine aber empfinde ich. Selbst das einfache, schmucklose »geliebte Eltern« erscheint mir unwahr. Als ich von meinem Brief aufsehe, erblicke ich Titurel und freue mich, daß er lebt. Titurel fühlt das und gönnt mir auch diesen Augenblick nicht mehr. Er wendet sich ab, sieht mich aber schief von unten an und flüstert: »Wehe dir, wenn du mich noch einmal anfaßt!« – »Ich dich anfassen?« frage ich. »Wer hat dir erlaubt, mich unter Wasser zu drücken? Du willst dich zeigen. Bin ich ein dummes Pferd, an dem du deine Künste versuchen kannst?« Ich gehe ihm nach, fasse ihn zwischen meine Arme, ziehe ihn an den Schultern noch einmal über die Schwelle und sehe ihn an. Nie hatte ich daran gedacht, ihn zu demütigen. Über andere zu herrschen war mir gleichgültig. Der einzige Wunsch in mir war, das ewige Gefühl des T. zu besiegen und mich durch das Bestehen von Proben frei zu machen von der Angst vor dem T. Ich habe diesen jungen Menschen liebgehabt, nicht wie man eine Frau, nicht wie man seine Eltern liebt, sondern wie man sich selbst liebt und seine eigene Jugend. Ich hätte gern in seiner Nähe gewohnt, ihn bei mir gewußt. Nun werden wir uns nicht mehr kennen. Wenn er jetzt mit hängenden Schultern, mit abweisend vorgestrecktem Kinn das Zimmer verläßt, erinnert er nicht mehr an den einzigen Freund meiner Jugend, er ist mein Schulkamerad in der adligen Schule, nicht näher, nicht fremder als andere.
Obwohl ich vor dem Einschlafen begreife, daß dies ein endgültiger Abschied ist, erwache ich doch kaum eine Stunde später von einem leisen Geräusch an der Tür und rede mir ein, daß nur Titurel sich so bei mir anmelden könne, daß nur er so schnell zu mir zurückkehre. Dabei weiß ich, daß seine Weise zu klopfen eine andere ist, zwei kurze, scharfe Schläge. Auch müßte ich mir sagen, daß er, mein Freund von einst, auch ohne Klopfen durch die kleine Verbindungstür eintreten würde, die vom Schlafsaal der »Fünften« in mein Zimmer führt, und nicht durch den Korridor, wo um diese Zeit stets eine Ordonnanz schläft. Zum Glück beherrsche ich mich in meiner trügerischen Vorfreude wenigstens so weit, daß ich die im Dunkeln des Zimmers näher kommende Gestalt nicht mit Titurel anspreche. Es ist nicht Titurel und wird es niemals sein. Ich schweige. Auch der Meister schweigt. Dann setzt er sich auf den Rand meines Bettes und beginnt zu sprechen. Ich erfahre jetzt, wer erwartet wird, der Herzog von Ondermark, ein berühmter Forschungsreisender und ehemaliger Schüler unserer Anstalt. »Und wohin Sie?« fragt er unvermittelt. Ich schweige. »Als ich hierherkam, lieber Herr von Orlamünde, dachte ich nur an ein Jahr. Fragen Sie mich nicht, wie viele Jahre es geworden sind. Ich dachte daran, mir ein kleines Vermögen zu machen, gleichgültig wie. Einen Hausstand zu gründen, gleichgültig wo. Nichts davon ist zur rechten Zeit gelungen. Ich habe hier viele Menschen kennengelernt im Laufe der Jahre. Alle sechs Jahre erneuert sich alles. Neue Gesichter, neue Stimmen, alte Namen. Mein ist nichts. Ich bin grau geworden.« Da ich schweige, geht er zum Fenster. Draußen regnet es mit unverminderter Heftigkeit. Das Wasser rinnt wie in starken Säulen, die sich fast gar nicht in Tropfen auflösen, von dem niedrigen Himmel nieder, der sonderbarerweise heller gefärbt ist. Er wiederholt noch vom Fenster: »Wohin mit Ihnen?« – »Wohin sollte ich sonst?« sage ich. »Hier fühle ich mich wohl.« – »Wohl?« sagt er. »Lebt ein Orlamünde um seiner selbst willen? Sie werden hier viele Bekannte haben und keine Freunde, Sie werden hier Befehle erteilen und doch nicht kommandieren. Sie werden … « Plötzlich sagt er mit einer veränderten Stimme: »Sie, ein Orlamünde, wollen doch nicht werden wie ich?« Draußen hat sich der Himmel stärker erhellt, und ich kann seine auseinanderweichenden, scharfen, steingrauen Augen sehen mit einem Ausdruck der Selbstvernichtung, der stärker ist als seine Liebe zu mir. Er, sonst immer Herrscher, hat sich tief gebeugt. Jetzt streicht er mit seinen Händen die Haare ganz straff an die ausgebuchteten Schläfen, so daß sie im matten Licht grau und schwarz durcheinander aufleuchten, dazu noch das Blitzgefunkel seiner schönen Steine. Er neigt den Kopf noch einmal von einer Seite zur andern, als wollte er sagen: »Niemand werde wie ich«… Dann öffnet er den Mund, zeigt seine schmalen weißen Zähne, die in dem alten Munde erhalten geblieben sind. Er tut, als wollte er mich schnell unterbrechen, wenn ich begänne zu sprechen.
Auch ich könnte sprechen. Es gibt viel, was ich niemand gesagt habe und was man nur einem Vater sagen kann. Einem leiblichen oder einem angenommenen. Aber ich kann es nicht.