50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2. Эдгар Аллан По. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Эдгар Аллан По
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Учебная литература
Год издания: 0
isbn: 9782291092247
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Erde fällt, wo er von den immer gierig umhergackernden Hühnern aufgenommen und wütend zerrupft wird. Piggy kann sich natürlich seines bellenden Lachens nicht enthalten, wir andern werfen aber dem Rendanten neue Zigaretten zu, die er »zur Sicherheit« zwischen die Blätter des großen Rechnungsbuches klemmt, um dann, mit den schweren Aktentaschen unter den dünnen Kanzlistenarmen, den blanken Kopf voran in der dunklen Tür seines Büros wie eine Eidechse zu verschwinden.

      Ich überrasche ihn dann zu Zeiten, in denen der Hof von den Schülern verlassen ist, hier in aufgeregtem Gespräch mit dem Meister; sie bewerfen einander mit Zahlen und mit unverständlichen Geschäftsausdrücken, aber beide verstummen, als sie mich erblicken. Ich gehe fort und überlege mir, nicht ohne Bitterkeit, daß hier ein Familienvater der gutmütigsten, anspruchslosesten Art dauernd von seiner Familie ferngehalten wird, ohne diese doch von den dringendsten Sorgen befreien zu können. Alle Geschäfte betreibt er, Prolongierungen und Diskontierungen, nur die eigenen Geschäfte nicht. Wir aber, die Söhne ohne Väter? Kann mir der Meister trotz seiner vielleicht echten Neigung den Vater ersetzen? Jetzt hat er den Rendanten, so ungern dieser ihn losläßt, allein gelassen und kommt mir eilig nach. Ich gehe nur um so schneller.

      Ich habe es bis jetzt nicht erklärt, aber gesagt muß es werden, daß ich körperliche Berührung von einer fremden Hand hasse. Es ist eine Erbeigentümlichkeit meiner Familie mütterlicherseits. Meine Mutter habe ich geschildert, wie sie ist, als die kindlichste, verspielteste, reizendste Frau, die es gibt. Aber habe ich gesagt, daß meine Mutter sich stets vor mir gescheut hat? Sie spielte mit allem. Sie griff einem inzwischen längst verstorbenen, immer kränklichen Hündchen ohne Scheu in das Maul, aber mich berührte sie nur mit dem äußersten Widerstreben. Dies war der einzige Grund der Zwistigkeiten zwischen meinem Vater und ihr. Sie faßte mich nie an, weder aus Zärtlichkeit noch zur Strafe. Und ich erbe dies von ihr, nähere mich kaum je ihrem Mund, ihrer Hand oder ihrem Halse, den sie gern mit Perlen geschmückt trägt, außer zu einem mehr gehauchten als wirklich mit warmen Lippen gegebenen Kusse. Es ist mir unbegreiflich, grauenvoll und beruhigend zugleich, wenn mein alter Herr mich rücksichtslos an seine schlecht rasierten Wangen drückt und wenn er mit seiner herabhängenden, müden, trübrot beschlagenen Unterlippe meinen Mund küssen will, was ich aber so geschickt abzuwehren weiß, daß er mein Widerstreben nicht merkt. Oder ist er nur zu vornehm, um es mir zu zeigen?

      Jetzt kommt mir auf dem Hofe vor dem Lazarett der Meister nach und faßt nach meiner Hand, in der ich noch die zerrissenen Abschnitzel eines unvollendeten Briefes an meine Eltern trage. Meinem Vater, dem edelsten Menschen, ließ ich meine Hand nicht so lange wie jetzt dem Leibeigenen, ohne ein qualvolles Gefühl der Beklemmung zu haben. Aber dem Meister füge ich mich in alles. Es ist grauenvoll und beruhigend zugleich, wie jetzt mit dieser Berührung das Vorgefühl des T., das mich den ganzen Tag umhergehetzt und mir nicht einmal die Ruhe zu dem Briefe an meinen Vater gelassen hat, wie dieses T. sofort verschwindet, wenn der Meister meine Hand mit der seinen umfaßt. Ist es Gefangenschaft? Zärtlichkeit? Ist er der Herr? Ich der Knecht?

      Schließlich muß ihm der Zug meiner Hand sagen, daß ich von ihm fortwill. Ohne mich anzusehen, gibt er mich frei. Warum ist meine Hand so schwach geworden, daß sie die Papierschnitzel, die unnützen Trümmer eines nie geschriebenen Bekenntnisses, fallen läßt, die nun von dem heißen, sandigen, in seiner Glut rauhen Winde aufgehoben werden und nun einen Flug beginnen, der sie, an den geschlossenen Fenstern der Anstalt vorbei, fast bis an das Dach des in der Hitze starrenden roten Schulhauses führt?

      Kapitel Achtzehn

      Die Zeit der großen Gewitter, welche während der ganzen Nacht mit ihren strömenden Güssen die Schlafräume mit ihrem balsamischen Dufte gefüllt hatten, ist vorbei. Ihr ist eine wolkenlose, für Ende Juni ungewöhnlich heiße Witterung gefolgt. Ein stürmischer Wind scheint immer von dem milchweiß oder gelblich umdunsteten Rande des Horizontes hervorzusausen, wobei seine Stärke, nicht aber seine Richtung gleichbleibt. Die Augen der Zöglinge röten sich infolge des Staubes, der von weit her zu uns getragen wird, man verläßt das Haus so wenig wie möglich und muß sogar nachts oft das Fenster schließen, da der sturmartige Wind niemand Ruhe gönnt. Wer wie ich im oberen Stockwerke des Schülertraktes wohnt, kann oft während der ersten Nachtstunden kein Auge schließen, sosehr er sich auch danach sehnt, da von den stark erhitzten Ziegeln des Daches eine furchtbare Glut ausströmt. Das nach und nach ganz ausgedörrte Gebälk beginnt zu krachen, um sich dann in den kühleren Morgenstunden wimmernd zusammenzuziehen, so daß man weder in den Stunden um Mitternacht noch in denen der Morgendämmerung die Erholung findet, deren man in dieser unnatürlichen Zeit besonders bedarf. Infolge dieser »unnatürlichen« Zeit ist eine Mißernte nicht ausgeschlossen, und der Rendant, der einen Teil der Ernte in V. verkaufen wollte, kommt mit ganz verzweifeltem, aber deshalb nur um so blasserem Gesicht auf seinem Motorrade zurück. Oder ist der Grund seiner Verzweiflung ein anderer? Was können die paar Scheffel bedeuten? Neben dem äußerlich ruhigen Meister erscheint seine Erregung fast lächerlich. Wer sollte auch das Lachen verbeißen, wenn der unverwüstliche Beamte, der sorgenreiche Rendant den Rest seiner noch nicht entzündeten Zigarette in seinen kummervollen Gedanken hinunterschluckt? Aber mir kommt dieses Lachen nicht aus dem Herzen. Wie gern wollte ich ihm helfen! Vielleicht fehlt ihm zum Ausgleich seiner schlechten Rechnung nur eine kleine Summe. Aber unter den ärmsten und hilfsbedürftigsten Zöglingen von Onderkuhle ist keiner ärmer als ich, keiner hilfsbedürftiger; wenngleich ich nicht nur in Geldmangel die Armut, noch in ein paar tausend Franken die Hilfe sehe, wie dieser arme Vater von sieben Kindern in seinem abgetragenen grauschwarzen Anzug hier …

      Jetzt kommt die letzte Nacht in Onderkuhle oder die letzte Nacht von Onderkuhle. Denn dies ist das gleiche. Ich habe Onderkuhle überlebt. Es ist nicht mehr. Zwar: was von mir nach dem Brande von Onderkuhle zurückblieb, heißt nur Boëtius von Orlamünde, ist aber ein anderes Wesen. Oder scheint es nur mir so?

      Nach dem gemeinsamen Abendessen (wie genau erinnere ich mich noch heute der Kirschen, die zum Nachtisch kamen, dunkelrot, feucht vom Wasser, in dem man sie gebadet hatte, und mit Resten von Blättern an den Stengeln, die aber von der unmäßigen Sonne fast zu Zunder verbrannt waren), nach dem Abendbrote begebe ich mich in mein kleines Zimmer, das mir mit seinen vielen überflüssigen Schreibsekretären doppelt leer und unwohnlich vorkommt, seitdem Titurel keinen Schritt mehr hineinsetzt. Er ist mir gegenüber nichts mehr als ein korrekter Kamerad, ich komme in seinen »Aufgaben und Rechnungen« nicht mehr vor, nicht in seinem Haß, weniger noch in seiner Liebe. Er hat mich ausgelöscht, oder, ärger noch, meine Existenz hat sich ihm von selbst ausgelöscht, so daß ich ihn nicht einmal zum Zorn reize noch auch zum Widerspruch – denn auch dies wäre mir ein Zeichen, daß ich für ihn noch lebe. Es ist vorbei.

      Ich nehme noch im Waschraum ein kaltes Duschebad und begebe mich dann zu Bett. Die aus dem dämmerigen Baderaum mitgebrachte Kühle tut mir wohl. Die Dinge bleiben wohlwollend, sie versagen die Treue nie … Ich schlafe sofort fest ein.

      Aber schon eine Viertelstunde später erwache ich. Vor meinem Fenster, das nach Süden geht und trotz dem unheimlich sausenden Winde weit offen ist, breitet sich der klar ausgestirnte, ultramarinfarbene, wolkenlose Himmel bis an die waldigen Berge des äußersten Horizontes aus. Ich kenne vom Unterricht her viele von den Sternen. Auch die Geographie der Erde war mir stets ein Lieblingsfach, ich kann mir die Erde mit ihren Erdteilen und riesigen Meeren ganz lebhaft vorstellen und dabei doch ihrer Kugelgestalt eingedenk bleiben, mir Städte, Gebirge und Flüsse an ihrem unverrückbaren Orte stets ins Gedächtnis rufen, das mich hier nie im Stich läßt. Aber mehr noch reizte mich immer die unabsehbare sphärische Geographie des ewig bewegten, kreisenden Himmelsgewölbes, die Namen und Stellungen, Lichtfarben und Klassen der Sterne, von denen ich immer Neues von unserm alten Professor (einem ehemaligen Seeoffizier) erfragte. Bis jetzt wirkte ihr Anblick in den guten, in den besseren Tagen ebenso wohltätig auf mich wie auf die meisten Menschen. In der Verwirrung der Menschen kann man nicht dauernd bleiben. Mit seinen unbefriedigten und unerfüllbaren Wünschen kann man nicht ruhig leben. Die Sehnsucht nach Vater und Zuhause läßt sich durch Sport und Arbeit nicht immer überwinden ohne einen Freund. Aus der Unruhe des eigenen Herzens flüchtet der Mensch zu gern in den Anblick der Sterne und wird erquickt, getröstet von ihrer Harmonie, von ihrem sanften, lautlosen Gange. So auch ich, bis auf diese Nacht. Von dem panischen Schrecken, der mich heute nacht