– Bier, sagte der Doktor lächelnd.
Wolf und Schimssa schauten ihn voll unverhohlener Befürchtung an.
– Bier, wiederholte der Doktor mit ausgeglichener Stimme, die bewies, daß er nicht an Geistesgestörtheit litt und ihnen weiterhin erhalten bleiben würde, war jahrhundertelang das traditionelle Erzeugnis zweier europäischer Regionen. Ist es gegenwärtig ein Getränk, das Buschmänner wie Eskimos trinken, dann keineswegs durch Verdienst irgendwelcher Regierungen oder der UNO, sondern einiger böhmischer und bayerischer Bierbrauer, die ihre Liebe zum Bier, ihr Talent und ihre Kräfte in den Dienst der durstigen Menschheit gestellt haben. Na schön, Sie haben neuerdings weniger Kunden. Dafür um so mehr Zeit und Energie! Nun denn: Weiht beides einstweilen dem großen Werk der Propagierung! Wir brüsten uns mit Landsleuten, die unser Glas oder unsere Käselaibchen in der Welt berühmt gemacht haben. Aber unsere Heimat ist vor allem eine Wiege der Pädagogik. Warum sollten es nicht abermals unsere Leute sein, von uns in fachlicher und ideeller Hinsicht präpariert, nach deren Know-how die Führer schwarzer, gelber und vielleicht auch gesprenkelter Revolutionen auf allen Kontinenten rufen werden! Wer will uns heute noch ein Volk von Musikanten nennen, da Musikfestivals in jedem, mit Verlaub –
rief der Doktor, und in seiner Stimme schwang der Enthusiasmus des unerschütterlichen Parteigängers mit,
– Scheißloch veranstaltet werden? Warum soll man uns nicht das Volk der geschicktesten, gebildetsten und humansten Scharfrichter nennen?
– Aber da, flüsterte Wolf und mußte erstmals nach vielen Jahren dagegen ankämpfen, daß seine metallische Stimme nicht vor Aufregung versagte, müßten wir eine Schule eröffnen ...
– Na und, fragte der Doktor, als überreichte er ihnen bereits die Schlüssel zum neuen Schulgebäude,
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– warum nicht?
– Gott, sagte Schimssa plötzlich, Gott, sieh dir das an!
– Gott, wiederholte Wolf seinerseits, wo ist denn das ausgeschlüpft?
Direkt auf sie zu kam eine jener Schwarzhaarigen von spezifisch südländischer Provenienz, bei denen man kaum abzuschätzen vermag, ob sie fünfzehn oder dreißig sind. Ungeachtet der Tatsache, daß eben erst der letzte Schnee geschmolzen war und die Sonne den Bäumen nur mühsam die ersten Knospen entlockte, trug sie ein Sommerkleid aus bedrucktem Batist, das so viel enthüllte wie irgend möglich: lange, kräftige, unbestrumpfte Beine, braungebrannte Arme und vor allem prachtvoll gewölbte Brüste; durch das anschmiegsame Gewebe war deutlich auch das Dreieck des Schoßes auszumachen. Hinter ihr kreisten kreischend Möwengeschwader, und es schien, als näherte sich da der leibhaftige Frühling.
Es war früh am Nachmittag, aber Wolf und Schimssa saßen schon seit fast drei Stunden an ihrem Lieblingstisch im Café ›Sparta‹. Fast drei Jahre waren seit dem Sommerabend in dem stickigen Vorführraum vergangen, wo der Doktor die historische Frage artikuliert hatte. Seine Voraussage, allerdings von zuverlässigen Informationen gespeist, hatte sich bald zu bewahrheiten begonnen. Die goldenen Zeiten der Massenexekutionen waren bisher zwar nicht wiedergekehrt, weil die prüde Ablehnung politischer Prozesse immer noch anhielt, aber der kritische Punkt war überwunden, und die Stabilisierung zeigte sich in der härteren Beurteilung krimineller Delikte. Die verantwortlichen Funktionäre – Wolf und Schimssa witterten dahinter die ameisenhafte Pionierarbeit des Doktors – hatten endlich begriffen, daß Vollstreckungen sich auf die Bevölkerung heilsam auswirken: Der einfache Bürger spürt die feste Hand der Regierung sowie den Wert seiner eigenen Unbescholtenheit; die politische Opposition, und sei sie noch so legal, weiß aufgrund ihrer Intelligenz, daß über die Anwendung der Todesstrafe, solange sie gesetzlich verankert ist, eine Macht bestimmt, die dadurch den Preis der Loyalität diktiert.
Der Aufschwung des Metiers hatte zahlreiche andere Verbesserungen im Gefolge. Bei zunehmender Kundenzahl entfiel das Feilschen um Prämien, Dienstwagen, die Reste der Henkersmahlzeit oder gar um das traditionelle Recht auf den Verkauf des verwendeten Strangs. Es wäre nur natürlich gewesen, wenn Wolf und Schimssa sich nach so vielen mageren Jahren mit offenen Armen den Freuden des Lebens zugewandt hätten. Neunundneunzig vom Hundert ihrer Kollegen hätten das gewiß getan. Sie mitnichten. Wolfs wahre Beziehung zu seinem Beruf hatte ein Vierteljahrhundert zum Kristallisieren gebraucht; hatte ihn zu den Höhen der Professionalität und in die Tiefen der Philosophie geführt. Schimssa war zwar viel jünger, aber nicht umsonst sein Schüler.
Wolf hatte keine Kinder. Die einzige Frau, die er je geliebt hatte und von der er sich welche gewünscht hätte, erlitt eine Fehlgeburt, als er ihr im Austausch für ihr süßes Geheimnis das seine verriet; seither war Markéta unfruchtbar. Was Wunder, daß er seine brachliegende Vaterliebe frühzeitig auf Schimssa übertragen hatte. Und was Wunder, daß der Waisenknabe Schimssa, der nur die unpersönliche Fürsorge von Kinder- und Soldatenheimen gekannt hatte, ihm dies mit einer Zuneigung vergalt, die der Sohnesliebe in nichts nachstand und an Intensität nichts zu wünschen übrig ließ, weil sie nie von den üblichen familiären Querelen getrübt werden konnte und weil er für Wolfs Kunst und Vorhaben tiefste Bewunderung hegte.
Dieses Vorhaben, einst beim Herabstieben der Perseiden aufgekeimt und mit ihnen zusammen vorübergehend erloschen, bekam nun allmählich grünes Licht. Die ungeheure Chance brachte allerdings auch eine ebensolche Verantwortung mit sich. Wolf hatte seit jeher die ketzerische Ansicht vertreten, daß die vielgerühmte Guillotine das Metier in Wirklichkeit nur entwertete. Diesen überdimensionierten Krauthobel konnte jeder beliebige Primitivling bedienen, und jeder Primitivling nützte das auch weidlich aus. Ist es nicht bezeichnend, daß die Franzosen mit diesem famosen Patent nicht weiter kamen als bis auf die eigenen Teufelsinseln? Daß sogar die Nazis in ihrem Märchenreich, wo die Bürger in Scharfrichter und deren Kunden aufgeteilt wurden, Beil und Block vorzogen, bis es an fähigem Personal mangelte? Um wieviel großartiger als eine tote Maschine war das Projekt einer lebendigen Schule, nicht etwa eines Ausbildungskurses, der Serienhandwerker ausspie, sondern einer echten »alma mater carnificium«, deren Absolvent allem begegnet sein würde, was das Exekutionswesen aller Epochen und Kontinente der Menschheit gebracht hatte, und überdies gelernt haben sollte, seine gesamte schöpferische Individualität zu entfalten! Nur das konnte sich – Wolf zufolge – als Sprungbrett erweisen, von dem aus das Metier sich emporschwingen mußte, um sowohl der eigenen glorreichen Tradition, als auch den steigenden Bedürfnissen der Zeit gerecht zu werden.
Die Grundsatzentscheidung war bald gefallen. Schon gegen Ende des Herbstes konnte der Doktor seinen Freunden eine Nachricht übermitteln, die für sie eine ebenso epochale Bedeutung besaß wie ehedem für die amerikanischen Physiker die Zustimmung zum Bau der Bombe. Sie waren intelligent genug, nicht zu fragen, wer dieses Ja erteilt hatte, da sie sich schließlich auszurechnen vermochten, wer die Vollmacht, die Finanzen und auch die Möglichkeit hatte, die neue Institution sowohl nach oben, als auch nach unten zu verheimlichen; das war nämlich die erste conditio sine qua non, die der kluge Wolf freilich einkalkuliert hatte und von deren Notwendigkeit er auch den ehrgeizigen Schimssa zu überzeugen verstand.
Am selben Abend lud er ihn zum erstenmal in seine Wohnung ein, wohin er sonst niemanden mitbrachte, denn nie sollte der Trubel der Welt bis dorthin vordringen; wie bedauerte er, einmal nicht konsequent gewesen zu sein: andernfalls hätte er jetzt das Wunder der Verwandlung seiner Kleinen – der Embryo war schon so weit entwickelt gewesen, daß eine Geschlechtsbestimmung möglich war – in ein Mädchen miterlebt. Wolfs Frau, immer noch attraktiv, obwohl die Zeit und die Sehnsucht unerfüllter Mutterschaft ihr Gesicht gezeichnet hatten, hatte ihnen einen kalten Imbiß bereitgestellt. Sie tanzten ein bißchen, tranken etwas mehr und genossen das Beisammensein; Wolf machte Schimssa sogar das Angebot, ihn inoffiziell zu duzen.
Auf Feiertage folgen Wochentage. Sie waren um so trister, als eine zweite Bedingung die ursprünglichen Pläne grausam durchkreuzte. Der unbekannte, entscheidende Faktor – sie hatten sich zusammen mit dem Doktor angewöhnt, ihn Investor zu nennen – verweigerte strikt das Hochschulstatut und verlangte sogar, die komplette Ausbildung müsse in einem einzigen Schuljahr stattfinden.