Die Henkerin. Pavel Kohout. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Pavel Kohout
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711461372
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zu kennen wie das Einmaleins, wenn sie nicht henken konnten wie geschmiert; daß hinwiederum bei gleicher Leistung derjenige die bessere Note und deshalb auch eine bessere Plazierung erhalten würde, der den kompletten von Hentig auswendig kannte. Also wurde die Doppelreihe der Grundfächer um acht Nebenfächer erweitert, um das Rückgrat der Schule in ein nervliches und gastrisches System zu betten, damit aus der Schule ein lebendiger Organismus würde.

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      Tab. 1

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      Tab. 2

      Der Jahresplan hatte zwar die meiste Mühe gemacht, war aber zugleich der bündigste. Als höchst kompliziert erwiesen sich die »Monatslehrpläne«*, insgesamt zehn, die sie gleich am Neujahrstag in Angriff nahmen, als ihnen wahrhaft nur noch eine Galgenfrist blieb. Hierbei genügte es nicht mehr, in das Kästchen am Schnittpunkt März/klassisches hinrichtungswesen nur Besondere vollstreckungsmethoden II – Exotica einzutragen, sondern man mußte das gesamte Pensum auf mindestens vier Blöcke aufteilen, damit für die einzelnen Wochen vorgeplant werden konnte. Es mußte entschieden werden, ob die »Exotica« einfach andere Kulturkreise erfassen oder auch die Problematik unterentwickelter Länder aufzeigen sollten.

      – Falls wir die erste Alternative akzeptieren, hatte Wolf damals überlegt, während am Nebentisch die Studentinnen der Schauspielschule vor der Prüfung mutmaßten, welcher der Examinatoren sich am ehesten bezirzen ließe, dann fallen unter den Begriff »Kulturelles« auch ganz primitive Formen, wie etwa die Vollstreckung mittels des sogenannten Hinrichtungsbaumes, des Upasbaumes, von dem Kerl Petržílka in den ›Gärtnerblättern‹ anno 1907 sagt: »Wird nun –

      zitierte Wolf, während am Nebentisch einige Rentner Mineralwasser bestellten, um gratis die Tagespresse lesen zu können,

      – über jemanden, das Todesurteil verhängt, dann fragt ihn der Richter, ob er durch die Hand des Henkers sterben oder ein wenig Saft vom Upasbaum zapfen möchte. Der Verurteilte wünscht meist letzteres, da er eine gewisse Hoffnung auf Rettung darin erblickt. Mögen sie auch noch so vielfältige Vorkehrungen treffen, so fallen doch neun von zehn, sobald sie das Laub berühren, vom Baum –

      fuhr Wolf fort, während vom Nebentisch die alten Männer von der Kellnerin vertrieben wurden, die dort Pädagogen der Schauspielschule unterbringen wollte,

      – und sind tot.« Für einen Kulturmenschen ist die Wahl zwischen einem erfahrenen Vollstrecker und einem scheußlich klebrigen Gewächs einfach undenkbar. Wählen wir hingegen Alternative Nummer zwei –

      fuhr Wolf fort, während am Nebentisch die Pädagogen darüber diskutierten, welche der Examenskandidatinnen sich am leichtesten herumkriegen ließe,

      – berauben wir die Schülerschaft um die echten Exotica hochentwickelter Zivilisationen, die der Ausfeilung vollstreckerischer Finessen die gleiche Aufmerksamkeit gewidmet haben wie der Gastronomie, ob ich als Beispiel nun die berühmte kaiserlich-chinesische Vollstreckung vermittels Wasser herausgreife, das in regelmäßigen Intervallen auf den fixierten Nacken des Kunden tropft, oder –

      fuhr Wolf fort, während am Nebentisch alte Frauen Limonade bestellten, um billig über ihre Krankheiten plaudern zu können,

      – die berühmt-berüchtigte Massenvollstreckung der Azteken, wobei die Spanier vor dem Altar Schlange standen, wo ihnen mit einem Steinmesser bei lebendigem Leibe das Herz herausgeschnitten wurde, oder –

      fuhr Wolf fort, während am Nebentisch die Greisinnen vom Kellner vertrieben wurden, der dort eine lustige gemischte Gesellschaft aus der Schauspielschule installieren wollte,

      – um auch unser, die Früchte der technischen Revolution nutzendes Jahrhundert zu erwähnen, die in Japan beliebte Vollstreckung mittels Lokomotive, in deren Heizkessel nicht nur Kohlen verfeuert wurden, sondern auch –

      beendete Wolf den vielstündigen Vortrag, während auf dem Nebentisch schon die Stühle lagen und Pädagogen und Studentinnen aufbrachen, um sich von der Richtigkeit ihrer Tips zu überzeugen,

      – Bolschewiken.

      Dabei waren weder Wolf noch Schimssa Schwätzer. Jede ihrer Diskussionen, übrigens der Keim zu Skripten, ergoß sich zwar wie ein vom Monsunregen geschwellter Fluß über die gesamte Problematik, kehrte dann aber gehorsam ins Bett des Plans zurück. Das Dilemma war gelöst, noch bevor abkassiert wurde: Um die Grenze zwischen den Entwicklungsstufen sichtbar zu machen, sollten die ersten drei Märzwochen den echten Exotica aus anderen Zivilisationssphären gewidmet sein, und in der letzten die »Anomalia«, womit Wolf diplomatisch das Wort »Primitiva« ersetzte, durchgenommen werden. So sollten die Studenten auch etwas über das unendlich anstrengende, in Asien geübte Schinden erfahren, wobei die Haut unbeschädigt bleiben mußte, sowie über die einfachen afrikanischen Vollstreckungen mittels Elefant, Termiten, hochschnellender Palme oder herabschnellendem Bambus.

      Bei dieser Gründlichkeit benötigten Wolf und Schimssa für einen Monatslohn mehrere Tage, und dabei bedeutete jede noch so geringe Verspätung, daß der Start sich um ein volles Jahr hinauszögern würde. Daher waren sie ehrlich verzweifelt, als sie Ende Januar einen Anweisungsschein für gleich zwei Kunden erhielten. Da benützte Wolf zum erstenmal die Geheimnummer und rief am Abend den Doktor an. Trotz der späten Stunde meldete sich eine äußerst strenge Sekretärin, und Wolf mußte sich erst mit dem verabredeten Codewort als »Vorsitzender« deklarieren, ehe sie ihn weiterverband. Falls er es einrichten könne, brachte Wolf sein dringendes Anliegen vor, daß die zwei warteten, bis das eine fertig war, seien er und Schimssa gewillt, für deren verlängerten Aufenthalt in der Todeszelle aus eigener Tasche aufzukommen. Ein so selbstloses Angebot konnte der Doktor nicht ungehört verhallen lassen, und infolgedessen gelang es ihnen, die Monatslehrpläne sogar früher fertigzustellen als vermutet: schon am 20. Februar.

      Demgegenüber klappte es mit den Wochenlehrplänen*, vor denen sie sich am meisten gefürchtet hatten, wie am Schnürchen. Zu verdanken war dies der perfekten, in den vorangegangenen Etappen so sorgfältig ausgearbeiteten Themenaufteilung. Idee und Arbeitsmethode der Schule erfüllten bereits die Funktion einer selbsttragenden Konstruktion, an der man risikolos verschieden schwere Fertigbauteile aufhängen konnte. Zweiundvierzig Bogen füllten sich erfreulich. Den überzähligen mit der laufenden Nummer 17 behielt Wolf großzügig den Weihnachtsferien vor, nachdem Schimssa ihn überzeugt hatte, daß es der Sache nur förderlich sein würde, wenn die Kinder, wie sie sie schon vertraulich nannten, ohne sie zu kennen, das schöne Fest der Menschlichkeit genauso genießen durften wie ihre Altersgenossen. Er überredete Wolf sogar, das gesamte Schüler- und Lehrerkollektiv eine Silvesterfahrt ins Gebirge unternehmen zu lassen, am besten gemeinsam mit irgendeiner normalen Schule. Sei es etwa nicht gut, den Kindern das Elitegefühl auszutreiben, das die Studenten der Schauspielschule zur Schau trügen? Sei es etwa nicht nötig, in ihnen Generationszusammengehörigkeitsgefühl heranzuzüchten, damit sie ihren künftigen Kunden mehr Verständnis entgegenbrachten?

      Wolf gefiel dieser Enthusiasmus, der verriet, daß Schimssa mental mehr zu den Jungen gehörte. Er tat ihm den Gefallen gern, weil der Planungsverlauf seine Zweifel zerstreut und ihm sogar beachtliche Reserven aufgedeckt hatte. Und so verblüffte er Schimssa durch den Vorschlag, die Wiederholung des wöchentlichen Lehrstoffs schon in den Freitagsblock einzubauen und den Samstag Ausflügen vorzubehalten. Studienfahrten, fügte er lächelnd hinzu, als er sah, wie Schimssa in die Knie ging, und erläuterte ihm, wie er sich das vorstellte: Die Klasse fährt an einen der mit dem durchgenommenen Thema verknüpften Orte, von denen es in der Heimat nur so wimmelt, sei es nun ein berühmter Galgenberg, der moderne Vollstrekkungsraum einer Bezirksstrafanstalt oder eine andere interessante Lokalität. Unterwegs können die Kinder Sport treiben, und die Pädagogen erhalten Gelegenheit, sie aus einer anderen Perspektive kennenzulernen als ex cathedra. Schimmsa war begeistert, und seine Beziehung zu Wolf wurde inniger, ohne daß sie allerdings die Grenzen überschritt, die sowohl Respekt als auch Subordination diktierten.

      Sie waren einfach glücklich und fruchtbar, diese Tage Ende Januar, und das Kaffeehauspersonal,