Die Henkerin. Pavel Kohout. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Pavel Kohout
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711461372
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seine Ausbildung denn nicht, so argumentierte er, obwohl buchstäblich aus dem Ärmel geschüttelt, in weniger als drei Jahren erfolgt, bis auf ein paar Bücher ohne Requisiten, und dann gleich am Kunden? Es genüge ja, dozierte er mit dem Bleistift in der Hand, wie dem Doktor abgeschaut, den freien Samstag abzuschaffen und eine Intensivschulung vom ersten September bis zum letzten Juni zu organisieren, von morgens bis abends, und die Effektivität werde sich im Vergleich zu gängigen Schulen verdreifachen.

      – Ja! sagte Wolf eines Tages und spürte gleichzeitig, wie ihn aller Zweifel verließ und das gewohnte Selbstvertrauen nachrückte, dieser unermüdliche Antrieb seiner heiteren Tatkraft. Dazu beigetragen hatten allerdings auch die Botschaften, mit denen der Investor die Einschränkungen kompensierte. Da war vor allem das Versprechen, die Lehranstalt werde außer den erforderlichen Mitteln für Gehälter, Stipendien und Gerätschaften auch ein anständiges Dach über dem Kopf erhalten, und zwar bei einer größeren Institution, damit sie sich, wie der Doktor sagte, in der Menge verlor. Und ferner das nicht minder wichtige Versprechen, daß trotz des nur einjährigen Studiums, notabene außerhalb des Ressorts des Ministeriums für Schulwesen, die Schüler nach erfolgreichem Besuch nebst erfolgreicher Meisterprüfung nicht nur den Lehrbrief, sondern auch das Abiturzeugnis erhalten würden.

      Wolf und Schimssa waren sich vollauf bewußt, daß sie das dem Doktor zu verdanken hatten. Während er einerseits durch geduldiges Argumentieren ihre Forderungen herabschraubte, schien er andererseits alle unermüdlich zu überzeugen, die dem Projekt Segen und Geld geben mußten. Das Ergebnis war deshalb ungeachtet aller Einschränkungen kein jämmerlicher Torso, sondern ein respektabler und hoffnungsvoller Kompromiß, der die Tür zu weiteren Entwicklungen offen ließ. Jetzt, da Wolf sein Selbstvertrauen zurückgewonnen hatte, war er überzeugt, daß schon der Erfolg des ersten, eigentlich des nullten Jahrgangs, die Skepsis des Investors ausräumen und den Weg zum unverändert gesteckten Ziel ebnen mußte. Deshalb wählte er das Motto für das Schulwappen so, daß es später die große Aula einer Universität schmücken konnte: Ohne denken kein henken!

      Damals spielte sich eine Episode ab, die in den Annalen der Schule weniger bedeutete als ein Scharmützel im Logbuch eines Schlachtschiffs, die jedoch dokumentierte, wie anspruchsvoll beide geistigen Väter an jedes Detail herangingen; man konnte ihr entnehmen, was für einen Typ von Absolventen sie der Gesellschaft zu liefern gedachten. Es war abermals Wolf, der auf die logische Idee kam, der Wahlspruch der künftigen »alma mater« müsse auch in der Muttersprache der Gebildeten formuliert werden.

      – Ich würde allerdings nicht sklavisch übersetzen, sagte er zum Doktor, sondern einen der berühmten Leisten verwenden, für unseren Zweck nur leicht abgewandelt. Beispielsweise würde »Zuerst leben, dann philosophieren!« unter Verwendung von »denken« und »henken« die Wechselbeziehung zwischen beidem großartig folgendermaßen zum Ausdruck bringen: Primum est cogitare, deinde strangulare!

      – Hübsch, sagte der Doktor, aber man merkte, daß seine Gedanken wie Radarstrahlen in jene Gehirnwindungen drangen, wo er seit seiner Studentenzeit die Zellen mit den Lateinbeständen eingelagert hatte, wirklich hübsch. Wäre indes das Muster »Wie du säst, so wirst du ernten« nicht präziser? Ut cogitaris, ita strangulabis!

      – Großartig, freute sich Wolf, doch da arbeitete sein Gehirn bereits auf vollen Touren, unbestritten großartig! Mir fällt nur soeben die berühmte Weisheit ein: ›Wenn du Frieden haben willst, mußt du zum Kriege rüsten!‹; zwar verlieren wir die Wörter »para bellum«, die sogar zum Markenzeichen von Armeepistolen wurden, aber die Variante wird dadurch nur um so prägnanter: Si vis strangulare, cogita!

      – Bravo! Gratuliere! applaudierte der Doktor, setzte das Duell jedoch fort, nicht etwa aus Eitelkeit, sondern weil er sich angewöhnt hatte, jedem Gedanken nachzuspüren wie ein Jagdhund, bis das Problem, wie er lächelnd zu sagen pflegte, »verbellt« war, wenn wir aber schon den Weg lapidarer Apostrophe einschlagen wollen, warum dann nicht gleich à la »Teile und herrsche!«: Cogita ut strangulares!

      Und Wolf vermochte nur überwältigt zu nicken; dieser Vorschlag war phänomenal.

      Gegen Ende des Frühlings konnte der Doktor dem Investor ausrichten, beide Bedingungen seien akzeptiert, und eine letzte, willkommene mitbringen: Gegen Ende des Winters Vorlage eines genauen Lehrplans für das Probejahr, Entwurf der Aufstellung des Lehrkörpers und Zusammensetzung der Klasse sowie Voranschlag des Etats. Deshalb saßen sie nun, wie täglich außer sonntags, hinter dem Panoramafenster des Cafés ›Sparta‹, das sie vor einem Jahr gewählt hatten, um sich in der freiwilligen Klausur nicht allzu isoliert zu fühlen. Einstweilen hatten sie jedoch sommerliche Platzregen herbstliches Nieselwetter und sämtliche Schneefälle des Winters unbeachtet vorübergehen lassen und ebensowenig Tausende von Straßenbahnen, Hunderttausende von Kraftfahrzeugen und Millionen von Gesichtern wahrgenommen, die während der ganzen Zeit auf dem riesigen Tierkreis des Lebens an ihnen vorbeidefiliert waren. Umgeben von Stößen von Büchern und Notizen, bewaffnet mit Lineal, Radiergummi und Farbstiften, erstellten sie, über steife Quartbögen gebeugt, den Lehrplan, der ihrer Überzeugung nach in die Lesebücher würde eingehen müssen.

      Die Kellner hielten sie zunächst für Pädagogen der benachbarten Schauspielschule und titulierten sie dementsprechend: Wolf mit »Herr Professor«, Schimssa mit »Herr Dozent«; und sie übernahmen diese Funktionen aus einem gewissen Aberglauben heraus in die Aufstellung. Nachdem die Ober erst einmal begriffen hatten, daß die beiden nicht etwa aus Knauserigkeit tagelang bei einer einzigen Tasse Kaffee saßen, sondern aus Arbeitswut, hier in eine Debatte vertieft, dort ins intensive Verfassen von Übersichtsplänen, begannen sie sich selbst um sie zu kümmern; zunächst wie um komische Käuze, dann wie um Stammgäste und schließlich wie um Familienangehörige. Der Schichtdienst sorgte für Abwechslung auf der Speisekarte, und manchmal brachten ihnen die Serviererinnen sogar hausgemachte Leckereien.

      Dank einer unglaublichen Selbstzucht gelangten sie noch vor dem Winter aus Nacht und Nebel – sie konnten sich ja an kein Vorbild, kein Muster halten – zur ersten Konzeption, und dann ging es mit Riesenschritten vorwärts. Da hatten sie sich bereits klargemacht, daß die tödliche Krankheit der Pädagogik »Uferlosigkeit« heißt, und beschlossen, ihr Gebäude auf vier Tragpfeilern zu errichten:

      Der erste sollte das klassische Exekutionswesen sein. Dieser zweifellos theoretische Gegenstand wurde nicht nur deshalb aufgenommen, weil darin die Idee einer wissenschaftlichen Anstalt vorherrschte, sondern weil Wolf der Überzeugung war, daß ohne dessen Kenntnis kein Scharfrichter fachliche oder menschliche Dimensionen gewinnen konnte. Es verstand sich von selbst, daß er die einschlägigen Vorlesungen halten würde. Daran anknüpfen sollte das moderne Exekutionswesen, von Schimssa gelesen, ebenfalls mehr theoretischer Natur, unter Einbeziehung zwar zeitgenössischer, jedoch in anderen Regionen praktizierter Vollstreckungsarten; es versprach denjenigen Schülern eine solide Grundlage zu vermitteln, die – wie der Doktor es sich erträumte – im Rahmen kultureller Abkommen für den Export arbeiten würden. Als zwei Hauptfächer waren Hängen und Foltern vorgesehen. Hier sollten die Schüler eine allumfassende Vorbildung genießen, um bereit zu sein, sämtliche anspruchsvollen Aufgaben zu erledigen, die ihnen die Gesellschaft stellen würde. Das Fach Hängen wollte, seiner größeren Erfahrung halber, Wolf lesen. Um das Fach Foltern bewarb sich überraschenderweise Schimssa selbst. Im Rahmen der Qualitätsanhebung des Unterrichts, so kamen sie überein, sollte Wolf bei Schimssa Gastvorlesungen über peinliches Recht, Schimssa bei Wolf über Strangulation halten, also über ihr jeweiliges Steckenpferd.

      Am Silvesternachmittag erblickte der »Übersichtsplan des Jahreslehrplans«*) das Licht der Welt. Im Kreuzworträtsel der Unterrichtsmonate und Lehrgegenstände erschien wie unter Röntgenbestrahlung das ideale Rückgrat des Gesamtprojekts. Ein Blick darauf mußte dem Fachmann verraten, daß es, trotz Wolfs Ablehnung der hellenistischen Kultur – für das Exekutionswesen eine finstere Epoche! –, aus dem Idealen der Kalokagathia erwuchs und einen harmonischen Akkord von Leib und Seele anschlagen sollte. Wolf war entschlossen, gegen das Fachidiotentum ins Feld zu ziehen, das in den Scharfrichterhäusern der Vergangenheit seinen Platz gehabt haben mochte, da es Amateuren erfolgreich den Zutritt zum Metier verwehrte, seither jedoch längst zur Beschwörungsformel der Konservativen geworden war: Gegen die gebildeten Vollstrecker neuen Schlages wetterten ja am lautesten jene Nichtskönner, die nie gelernt hatten, ordentlich ein Genick zu