Man weiß es einfach. Alles. Ist für den anderen da.
Ohne zu fragen.
Immer.
Jonathan erhob sich. Glücklich, denn er wusste, auch wenn sein Freund nichts zu sagen vermochte, weil ihm der Schmerz noch immer die Kehle zuschnürte, dass Franco in Kürze wieder der sein wird, den er immer bewundert hatte. Das sagte ihm der Blick in die großen, schwarzen, voll kosmischer Tiefe leuchtenden, erleuchteten Augen.
Sie strahlten. In ihnen sah man Musik. Klang, Licht.
Wie tausend Sonnen.
Licht, Kraft. Energie. Töne.
Leben.
Stella lag, Luftlinie etwa zehn Kilometer von Francos Aufenthaltsort entfernt, nahe dem Dresdner Zwinger, auf den sie hätte schauen können, wenn sie denn wollte, apathisch in einem Raum, der mit der nostalgisch/armseligen DDR-Nüchternheit des sterilen Plattenbau-Krankenzimmers der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts Francos nicht zu vergleichen war. Es umgaben sie wohltuend warme Farben. Gespachtelt die Wände, warmes Licht die Lampen und auch das von draußen einfallende Licht, das sich durch die übergroßen Jugendstilfenster in das Zimmer schob und sich in den schwer fallenden Seidengardinen brach, obwohl es draußen trüber Herbst war. Die Sonne machte, nur für Stella, Überstunden; eine geschmackvolle Einrichtung, in der das bequeme King-Size-Bett eher wie ein Fremdkörper wirkte. Blumenarrangements wohin das Auge blickte und ein dem Raum sich anschließender Wintergarten, in dem gemütliche, naturfarbene Korbmöbel standen. In ihm hingen zwei Kopien von Cézanne und Chagall, die sich dekorativ in das Gesamtbild einfügten. Der Kamin zu ihrer Rechten, ebenfalls mit orangefarbenen Jungendstil-Ornamenten eingefasst, verbreitete nicht nur eine angenehme, wohlige Wärme; die Scheite knisterten ein Lied des Verstehens, schienen für Stella komponiert. Die Stuckdecke des großen Raumes war liebevoll restauriert; aus den Ecken blickten goldene Engel auf die Patientin herab, die von dem gediegenen Ambiente nichts mitbekam.
Dennoch beschützten die Engel den Rockstar.
Ungefragt. Schutzengel halt.
Sarah Henderson, Stellas exzentrische Mutter, saß seit nunmehr vierzig Stunden auf einem Sessel ihrer Tochter gegenüber, die bislang nicht zu erkennen gegeben hatte, dass sie ihren Besuch überhaupt bemerkte. Auch Stella hielt, ähnlich wie der ihr fast unbekannte Franco, die Augen geöffnet, schien mitten im aktiven Leben zu stehen, nachzudenken, aber es war absolut keine Reaktion von ihr zu erhalten. SAHE, so der Künstlername von Sarah Henderson, der berühmten New Yorker Malerin des Abstrakten, hatte sich, kurz nachdem sie in der Privatklinik, die einst Professor Manfred von Ardenne gründete, angekommen war, eine kleine Stereoanlage kommen und CDs besorgen lassen, von denen sie wusste, dass etliche Songs daraus zum Liebsten gehörten, was ihre Tochter mit Musik verband. Sorgfältig suchte sie die Songs aus, die nun, abwechselnd, ganz leise aber beständig in Stellas Ohren drangen, um ihre Seele zu berühren. Stunde für Stunde. Sarah hoffte, über eine Therapie des Erinnerns, des Verbindens mit elementaren, großen und schönen Ereignissen beim Erforschen von Musik, Stella aus ihrem Koma reißen zu können. Töne, Klänge, Musik sind das Erste, was Kinder aufnehmen. Lange bevor sie sprechen können. Sprache ist aus Musik entstanden. Ist heute, nach kosmisch langer Entwicklungszeit, die simplifizierteste Form von Musik. Je komplexer Sprache wird, umso mehr verschließt sie sich dem Ton, hat im Laufe der Zeit ihren eigentlichen Rhythmus verloren, die weichen, harmonischen Schwingungen, obwohl ihre Ursprünge in der Musik liegen und keine Sprache existieren könnte, ohne Musik zur Grundlage zu haben. Aber Sprache hat ihre Flügel abgegeben, ist zum Ratio von Verständigung geworden. Oft zum Unverständnis verwachsen, verkrüppelt.
Doch der Zauber von Musik hat eine unvergleichliche Wirkung auf unsere Seelen. Musik macht uns die materielle, physische Welt attraktiv. Musik macht uns intelligenter, aufnahmefähiger, weicher, sensibler und menschlicher, denn sie vereint wie nichts Anderes in der Natur, Harmonie, Rhythmus, kosmisches Geschehen, Energie, Wellen, Töne, Individuelles, Künstlerisches, Emotionales, Großes und Kleines in sich. Sie regt das Denken an, die Kommunikation, das Miteinander, das Speichernde. Wie viel Melodien haben wir in uns! Unsere Seele wird ungebunden, frei. Sie fängt an große Sprünge zu machen, zu träumen, zu jubilieren, wenn sie auf Musik trifft, die sie berührt. Und Musik heilt. Klang, Wellen, Rhythmen, Zyklen, Energie – alles geht bis in unsere Zellen. In jede einzelne. Kommunikation auf feinstofflicher Ebene.
Klänge heilen.
Darauf setzte SAHE.
Um Stella aus ihrer Gefangenschaft zu reißen. Um sie in das Leben zurückzuführen, das ja für uns Menschenkinder nicht nur aus negativen Erlebnissen, Belastungen besteht. Natürlich war ihr bewusst, dass es ein schwieriger, möglicherweise langwieriger Prozess werden würde, denn die hohe Sensibilität ihrer Tochter ließ Ereignisse wie die vom vergangenen Montag besonders tief und schmerzhaft in ihrer Seele verweilen. Aber sie wollte aufpassen, dass sie sich dort nicht verankerten, keine Wurzeln schlugen. Hoffte, dass sie sie über die Schönheit, die Kraft, die Einmaligkeit von Tonfolgen, genannt Melodien, von ineinander verschachtelten Tonsprüngen, genannt Harmonien, von Zeitfolgen, Wiederholungen bestimmter Wellenlängen, die auf und gegen und vor allem miteinander agieren, genannt Rhythmus, der von Stella geliebten Musik, alles Tötende, Zerstörende wieder zu vertreiben vermochte.
Man musste dem Negativen positive Energien entgegensetzen. Denn wer Musik wirklich liebt, der wird durch sie geheilt werden. Musik erreicht alle Gedankengebäude des Menschen. Sie erreicht aber nicht nur seine Gedanken, seine Seele, das Herz, sie erreicht auch den gesamten physischen Körper. Alles schwingt in Rhythmen. Passen die gehörten Rhythmen, die Wellenformate der Melodien zu dem eigenen individuellen Schwingungsmuster, entsteht Heilung. Der Charakter des Menschen weckt seine ganz persönlichen musikalischen Neigungen; die gehörte Musik steht in direkter Ambivalenz zu seinem ICH. Beide können sich gegenseitig beeinflussen. Das heißt, je feinfühliger ein Mensch veranlagt ist, umso subtiler kann auch die Musik werden, die er aufzunehmen vermag. Nun glaubt man ja gemeinhin, dass Rockmusik diese Subtilität vermissen lässt. Das mag stimmen, wenn man Rockmusik oberflächlich betrachtet, dafür keinen Sensus in sich trägt, sie vollends zu erfassen. Aber auch in der Rockmusik, vom Rhythmus beherrscht, gibt es immense Unterschiede. Und Sarah hatte mit der ihr eigenen Erfahrung des Betrachtens der Tochter über die Jahre des Erwachsenwerdens Songs ausgesucht, von denen sie durch die unbeschreibbaren Bande des Mutter-Tochter-Verhältnisses instinktiv und ohne Einschränkungen sicher war, dass sie Stella helfen würden. Dass sie der Schlüssel sein könnten, um diesen Zustand des Dahindämmerns, des Leidens, des sich von der lebendigen, physischen Welt trennen wollenden Teils in Stella aufzulösen. Dass sie sich einfangen ließ, auch und gerade von dem kraftvollen Rhythmus der Songs.
Das Genie drückt seine Empfindungen und Gefühle in seiner Musik aus, ohne dass es Worte dazu benötigt. Musik als universale Sprache, ja, vielleicht auch gesungen, ohne dass die Worte eine existenzielle Bedeutung erlangen. Intuitiv erfassen, was uns berührt. Die innere Welt, die nur die Seele mit ihrem musikalischen Auge erkennen kann, wieder zum Leuchten bringen.
„Take off my shield - carry my sword - I won’t need it anymore - find me a sky - give me wings - frozen and broken but free - tell them I’m all right - I’m coming home - tell them I’m all right - I am alone - this war is over - I’m coming home - take off my shame - bury it low - I won’t need it anymore - find me the sun - give me it whole - melt all the chains in my soul - tell them I’m all right - I’m coming home - tell them I’m all right - I am alone - this war is over - I’m coming home - take off my pain - carry me slow - I won’t fight here anymore - tell them I’m all right - I’m coming home - the war is over ...“
Melissa Etheridge, „This War Is Over“.
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