SIE TÖTEN DICH.. Dankmar H. Isleib. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dankmar H. Isleib
Издательство: Bookwire
Серия: 666 - Perfektion des Bösen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783969020074
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zusätzlich organisieren konnte, weil ich denen vertraue. Sie klammerte sich nach diesem widerlichen Geräusch der Explosion völlig verkrampft an mich und sagte „Jonathan, das galt mir!“ Dann schrie sie völlig verzweifelt: „Die Girls! Mein Gott, die Girls sind in meine Garderobe gegangen! Ich habe sie vorgeschickt, damit sie dort auf mich warten und den Champagner öffnen!“

      Wir mussten die in Panik geratene Stella mit Gewalt zurückhalten, damit sie nicht kopflos in das Zentrum des Chaos lief. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch gar nicht, was eigentlich wirklich geschehen war. Mir war nur klar, dass es sich um eine Explosion handeln musste. Erfahrung. Es klang zwar nicht wie eine Bombe, deren mögliche Sounds ich recht gut kenne, auch nicht wie Plastiksprengstoff. Aber gefährlich, verdammt hässlich!«

      Jonathan reagierte auf Francos hilflosen Blick:

      »Ja, Franco. Am unterschiedlichen Sound einer Explosion kann man erkennen, um welche Art von Sprengstoff es sich handelt und wie viel benutzt wurde. Ich stand etwa zehn Meter hinter der Bühne, direkt an dem großen Zwischentor, das zum Flur der Garderoben auf der rechten Seite der Halle und den Catering-Räumen auf der linken Seite führt. Der dumpfe, fast zischende, lang gezogene, düstere Knall kam von der rechten Seite. Und während Mick und Alberto mit ihren riesigen Körpern sofort Stella umklammerten, die anderen Jungs sie weitläufiger absicherten, lief ich zum Ort der Explosion. Das Bild, das sich mir bot, war grauenvoll. Mit dem jetzigen Wissen kann ich dir ziemlich genau schildern, wie sich alles abgespielt haben muss. «

      Jonathan wischte sich mit dem Handrücken fahrig kalten Schweiß von der Stirn, so sehr nahm ihn die Berichterstattung an seinen Freund mit.

      »Der oder die Attentäter müssen während des Konzertes trotz der beiden Security-Leute, die den Gang zu den Garderoben bewachten, irgendwie in Stellas Garderobe gelangt sein. Wie, ist noch immer ein Rätsel, denn wir hatten vor der Tür zwei weitere, dem Auftrag gemäß bestens geschulte und ebenso gut ausgerüstete Top-Leute postiert, die sich nicht von der Stelle bewegt haben. Es waren sorgfältige Sicherheitsmaßnahmen, äußerst ungewöhnlich für ein Rockkonzert – sie haben nichts genützt. Der/die Täter haben ein völlig neues Material verwendet. Ein so gut wie unsichtbares Pulver, fast durchsichtig, ein wenig graubraun schimmernd, das einfach auf den Fußboden gestreut wurde. Möglicherweise hat man es über die Lüftung mit einem Schlauch hineingeblasen, der bis zum Boden reichte. Aber ob es so war und wie sie es anstellten, das wissen wir noch nicht. Wir können nur vermuten. Dieses Pulver reagiert auf ein bestimmtes Gewicht. Tritt man mit mehr als zehn Kilogramm auf nur ein einziges Körnchen des feinen Materials, das wirklich wie Staub aussieht, gibt es eine Kettenreaktion von Explosionen – deshalb auch der lang anhaltende, dumpfe, gedämpft wirkende Ton – und verwüstet alles, was sich ihm entgegenstellt. Man kann die Dosierung ziemlich genau berechnen. In Stellas Garderobe war sie so hoch dosiert, dass es drei der Mädchen innerhalb von Bruchteilen von Sekunden komplett zerrissen hat. Regelrecht zerfetzt. Die beiden Letzten, die den Raum betraten, sind an der Druckwelle gestorben. Es hat ihre Lungen zerrissen. Und dann die Tür nach außen gedrückt. Einer der Security-Männer war auf der Stelle tot, der zweite ist noch immer nicht vernehmungsfähig und ebenfalls schwer verletzt. Da die Garderobe über keine Fenster verfügt, ein reiner Betonkäfig ist und nur eine sehr klein dimensionierte Klimaanlage hat, konnte sich die Druckwelle ausschließlich in Richtung Tür ausdehnen. Es gab kein Entrinnen. Für nichts und niemanden. Du weißt, was das heißt.«

      Jonathan drückte Francos Hand, dass sie schon schlohweiß war. So sehr nahm ihn die Situation noch immer mit.

      »Keiner konnte das voraussehen. Keiner sich ein derart apokalyptisches Szenario vorstellen. Wir hatten alle Sicherheitsmaßnahmen nach bestem Wissen, mit großer Sorgfalt getroffen. Dennoch muss es ein Leck in unserer Sicherheitskette gegeben haben und dieses Leck hat sechs, vielleicht sieben Menschen das Leben gekostet. Schlimmeres ist mir in meiner beruflichen Vergangenheit noch nicht widerfahren. Wir haben es mit einer skrupellosen, vor keiner noch so widerwärtigen Tat zurückschreckenden Spezies zu tun, die die Bezeichnung ‘Mensch’ nicht verdient.«

      Franco lag regungslos da, die Augen geschlossen, Tränen flossen über seine Wangen.

      »Ich habe das Krankenhaus, in das dich ein Bauer, der dich auf dem Feld fand, brachte, hermetisch abriegeln lassen. Denn ich fürchte auch um dein Leben. Es kann nicht sein, dass die nicht wissen, wer ihrem Begehren, Stella auszulöschen, nun schon so lange erfolgreich im Wege steht. Stella liegt in einer Spezialklinik für Psychiatrie und angrenzende Fachgebiete. Sie befindet sich in einer Art seelischen Komas. Völlig desolat, nicht ansprechbar. Ähnlich dem deinen. Das sagte mir vor wenigen Stunden Marek Bergfield, ihr Manager, der keine Sekunde von ihrer Seite weicht und sich als treuer Freund erweist. Auch er ist um Jahre gealtert und hat Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, wie sie nicht einmal Billyboy Clinton in seinen besten Jahren zuteilwurden. Also mache dir bitte darüber keine Sorgen. Sie ist in jeder Beziehung in guten Händen. Außerdem kam ihre Mutter schon gestern Mittag aus New York an. Mit Julios 727. Auch sie ist bei Stella im Krankenhaus.«

      Franco drehte sich zur Seite, stöhnte wie ein verwundeter Hund. Es war ein langer, Jonathan das Herz zerreißender Schluchzer. Beängstigend, laut, animalisch und doch auch zutiefst menschlich.

      Jonathan setzte erneut behutsam an: »Du brauchst mir nichts zu sagen, ich sehe alles. Du kannst fragen, wenn du möchtest. Aber bitte glaube mir, es gibt im Moment nichts zu tun, was nicht bereits eingeleitet worden wäre. Nur noch eines. Vielleicht baut es dich ein wenig auf: Stella hat sich in den Minuten nach dem Unglück großartig verhalten. Nach dem Überwinden des ersten Schocks, der Panik, der auch sie sich nicht entziehen konnte, begann sie zu helfen. Einfach so. Sie war nicht Fräulein Superstar, nicht ängstlich, nicht zickig. Nicht mal um sich selbst besorgt, was jeder hätte verstehen können. Sie schüttelte die Bodyguards ab, handelte wie eine erfahrene, rigoros durchgreifende Oberschwester, die ihre wohldurchdachten, professionellen Anordnungen erteilt. Bevor die Notärzte mit ihren Teams zur Stelle waren, eilte sie mit dem Bühnenarzt und zwei Schwestern des DRK in die zerstörte Garderobe und kümmerte sich um das noch lebende Mädchen und die beiden Security-Männer. Schnell mussten wir leider alle erkennen, dass wohl jede Hilfe zu spät kommen würde, aber sie kniete nieder, versuchte mit dem vielleicht überleben könnenden und nicht total zerfetzten Mädchen zu reden, Mund-zu-Mund-Beatmung zu machen und mit ihrer Anwesenheit, ihren ohnmächtigen Versuchen Leben zurückzubringen, irgendwie das Furchtbare zu lindern. Ein Anblick, der mich zutiefst berührte und der sie für mich in einem anderen Licht erscheinen ließ. Denn du weißt, dass ich während der Tournee einiges gesehen habe, was diesem Eindruck konträr entgegensteht. Als ich Stella, sie war schon in einem tranceähnlichen Zustand als sie dir gegenüberstand, danach zu einem Krankenwagen führte – sie war dem völligen Zusammenbruch, der sich wenig später einstellte, schon sehr nahe –, fragte sie mich: „Wer war der Rothaarige mit den wunderschönen Augen? Muss ich ihn kennen? Diese Augen möchte ich wiedersehen.“ Dann brach sie vollends zusammen und befindet sich seitdem in dem Zustand, den ich dir gerade zu schildern versuchte.«

      Franco schaute in eine bildlose, düstere Welt voller Töne, die nur er zu erkennen, zu hören schien. Den Blick in eine Weite und undefinierbare Tiefe gerichtet, die Jonathan spüren konnte. Und Franco suchte diese Tiefe und Weite in sich selbst. Er horchte in sein Ich hinein. Abstrakter Klang erfüllte den Raum. Ein Klang, so fein, dass er für ein menschliches Ohr nicht hörbar, nicht sichtbar war. Saute-e Sarmad, wie die Sufis ihn nennen. Sarmad – Berauschung, denn die Seele wird frei von irdischer Macht, irdischen Zwängen. Grenzenloser Klang, Anahad in den Veden genannt. Es ist Raum in uns und Raum umgibt uns. Die irdischen Töne sind zudem begrenzt, abgegrenzt. Sichtbare Frequenzen. Überall in der Natur. Sie äußern sich in Materie, in Farben, in Klängen. Nicht so der abstrakte Klang. Er ist außerhalb des mit unseren äußeren Sinnesorganen Fassbaren. Erkennen, aus welcher Richtung der Klang kommt. Wenn man das schafft, kennt man den Weg. Seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Mysterium des Klangs ist das Mysterium des Universums.

      Alles ist in uns und einige wenige Menschen können lernen, haben die Sensibilität in sich, zu Hu zu gelangen.

      Dem Heiligsten aller Laute.

      Fast hatte es den Anschein, dass Franco Jonathans Anwesenheit gar nicht wahrgenommen habe. Doch dann, es waren mindestens zwanzig Minuten der völligen