Jonathan musterte eindringlich seinen Chef, der ihm längst zum Freund geworden war. Und stellte fest, dass Franco Mignello, der abgedrehte junge Mann aus Verona, intelligent, erfolgreich in seinen Jobs, aus megareicher Industriellenfamilie, eigenartig verändert wirkte. Noch in der fürchterlichen Nacht des vergangenen Montags sah er vor sich einen unverbrauchten, unverdorbenen, ja fast naiven Typen, der so alt aussah, wie er war, knapp einundzwanzig Jahre, der seiner großen Liebe – aufmerksam/erfolglos – hinterherhechelte. Sie behütete, beschützte. Sie umsorgte, wenn auch aus einer sehr fernen Nähe. Der das Unheil, das dem Star widerfahren könnte, förmlich roch. Ohne zu fragen half. Ständig. Beständig. Das Gras wachsen hörte, mit seinen Panik-Prognosen leider immer öfter Recht bekam und bei allem Stress stets zurückhaltend, vornehm und schlicht war. Anständig. Zutiefst anständig. Kein herkömmlicher Stalker. Ein seltenes Geschöpf in einer ziemlich heruntergekommenen Welt, in der nur der schnelle Reichtum, der Übernachterfolg, der Einsatz von Ellenbogen und eben Geld, Geld, Geld zählte. In der Waffenhändler und Zuhälter, Immobilienhaie und Börsenmakler, Drogenhändler, Banker, Versicherungskaufleute und korrupte, korrumpierbare Politiker weit mehr galten als Maler, Gärtner, Architekten, Fliesenleger und Astronomen, Krankenschwestern, Fräser und Designer, zurückgezogen lebende Philosophen, Musiker, Schriftsteller, Künstler und Visionäre, die nicht jeder Mode nachgaben.
III
Jutta malt Schwänze.
Jutta weinte. Weinte still in sich hinein. Die Augen halb offen, verklärt, voller Tränen und in eine Weite schauend, die man physisch hätte messen können. Eine kosmische Weite. Doch tatsächlich saß sie allein auf dem kargen, zu einem Bett verwandelten Teil ihres loftartigen Ein-Zimmer-Apartments im Sachsenwald, einem bevorzugten Wohnviertel der Bankenstadt Frankfurt am Main. Eine CD lief. Prince Cheb Mami. Arabischer Pop. Geheimnisvoll, melancholisch, kraftvoll, würdevoll. Nicht dieser Hitparadenmist, den die Sender vierundzwanzig Stunden landauf, landab dudeln und damit die Kids zu unsensiblen Ungeheuern machen. Richtig gut abgehende Musik. Ein Mix aus dem Underground der schwarzen Musik, vereint mit dem Groove der nordafrikanischen Wüste und der Elektronik westeuropäischer Musiker.
Der große, lang gestreckte Raum wirkte eher wie das Studio eines ziemlich ausgeklinkten Malers oder Bildhauers. Männlich, hart, doch zugleich sinnlich. Unaufgeräumt in chaotisch-genialer Weise. Überall Fotos, Bilder, Skulpturen. Staffeleien, auf denen angefangene Gemälde, Fragmente einer düsteren, erotischen Welt zu sehen waren. Riesenschwänze in Knallblau auf grellem Gelb. Leuchtfarbe. Schwänze mit Augen; mit trauriger Miene, halb schlaff, gerade explodierend. Gemalt in Öl, präzise und anatomisch perfekt. In einer im Sinne des Wortes malerischen Umgebung, die man nur als bizarr bezeichnen konnte. Mal saß so ein Superriesenschwanz auf einem Baum, schaute melancholisch, so schien es, auf eine verschneite Landschaft. Mal hatte ein Sechzig-Kilo-Fisch ihn – den Schwanz eines Mannes – quer in seinem Maul und schwamm auf einer Wiese gegen den stark anschwellenden Strom, breiter als der Amazonas, der wiederum die Fortsetzung eines Wasserfalles war, der aus einer überdimensionalen Vagina schoss. Ein anderes Bild, unfertig wie die meisten oder eben exakt so gewollt und fertig, da ein Teil der circa drei mal zwei Meter großen Leinwände immer weiß blieb, unberührt, jungfräulich, zeigte eine Geigerin. Bronzefarben, langbeinig, breitbeinig, nackt, die mit einem – überdimensionalen – dunkelgrünen Schwanz in der Rechten, der sich als Geigenbogen betätigte, das Instrument malträtierte und sich zugleich der Freude eines Orgasmus hingab und goldgelben Samen aus sich herauskatapultierte. Mitten ins staunende Publikum, das mit offenen Mäulern an der Bühnenkante des imaginären Konzertsaals der Geigerin zu lauschen schien. Oder zu warten. Auf den Orgasmus?
Keine Schränke, kein Tisch; Sessel, Sofas? Fehlanzeige in dem Loft. Nur Farben, Werkzeuge; ein paar Klamotten lagen – fast konnte man meinen, sie seien nach Beuysscher Art als Bestandteil der bizarren Kunst bewusst so hindrapiert – über Skulpturen, die ebenfalls männliche Erotik in einer Weise darstellten, wie es selbst die nicht gerade prüden Inder in ihrer langen Tradition erotischer Kunst verwundert hätte. Wie kann man hier leben, wohnen? Noch dazu als junge Frau!?, würde sich ein Besucher erstaunt, befremdet, neugierig fragen.
Aber es gab in dieser Nacht keinen Besucher.
Auch in den anderen Nächten des Jahres nicht. Nur Jutta, die weinte. Nackt saß sie auf dem schwarzen Laken des schwarzen Lackblocks, der als Bett diente. Eine Matratze konnte man nur vermuten; aber vielleicht war die weinende Schönheit ja eine Yogi.
Warum habe ich ihn verloren. Warum gab er mir nicht eine Nacht. Die eine Nacht; nur eine einzige Nacht!
Das fragte sich nun schon seit Stunden, vielen Stunden, Jutta, die langbeinige Schöne, in Gedanken versunken, ihr Bauchnabelpiercing mit einer dauerhaften Bewegung misshandelnd, als hätte sie einen der überdimensionalen, gemalten Schwänze zwischen ihren schlanken Fingern.
Die Augen. Nie werde ich diese Augen vergessen können. Ich muss Augen malen. Nur noch Augen.
Augen. Ja.
Morgen fange ich damit an.
Miami. Strand. Ocean Drive und diese Augen.
Nie mehr Schwänze.
Augen werden es sein. Seine wundervollen, intensiven, strahlenden, leuchtenden Augen. DIE sind es, die ich liebe. Und Schwänze. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin. Aber ab jetzt zählt nur noch seiner. Er fühlte sich großartig an. Er schmeckte gut. Wie Vanillepudding. Ich mag Vanillepudding. Und er war viel imposanter, als ich es bei dem kleinen, hässlichen, sommersprossigen Typen aus Italien hätte vermuten wollen.
Die Nacht fing sie und ihre wild-melancholischen Gedanken ein, umhüllte die nackte Schönheit im Loft; Prince Cheb Mami verstummte. Nur das Surren des Kühlschranks war zu hören.
Wohnen konnte man hier nicht.
IV
Rückblick auf ein apokalyptisches Szenario, HU – der heiligste aller
Laute, Stella im Wachkoma
und SAHE, die mit Musik & Liebe
Hilfe bringt.
Keine achtundvierzig Stunden später blickte Jonathan in reife, wissende Augen. In das Gesicht eines erwachsenen Mannes, der, scheinbar, die Hälfte seines Lebens bereits überschritten hat. Und dennoch irgendwie ganz jung wirkte. Der Schock des Erlebten musste tief, sehr tief in ihm sitzen. Franco schaute Jonathan in einer Weise an, dass ihm, dem harten, in Kämpfen erprobten Mann, die Tränen in die Augen schossen. Er ging die zwei Schritte zu Francos Bett, beugte sich zu dem kleinen Häufchen Elend hinunter und drückte es an sich. Warm und herzlich. Wie ein älterer Bruder den geliebten Junior begrüßt, wenn dem Schicksalhaftes widerfahren war. Und es war Unfassbares, Grausames verübt worden, das auch er noch längst nicht verarbeitet hatte.
Die fragenden Augen verunsicherten Jonathan. Durfte er ihm alles erzählen? Details? Würde der gealterte Junge, der junge, reife Herr, das ganze Ausmaß schon heute verkraften? Er setzte sich zu Franco auf die Bettkante, verscheuchte den noch immer wartenden Arzt mit einer unauffälligen Handbewegung und begann:
»Ich fange bei dem an, was dich am meisten interessiert. Nachdem du völlig überstürzt und panischen Blickes aus der Halle gerannt bist, brach auch Stella vollends zusammen, noch bevor sie sich dir wieder zuwenden konnte. Mit der Tapferkeit einer ganz großen Seele hatte sie die etwa dreißig Minuten, die zwischen der Explosion und deinem Verschwinden lagen, überstanden. Natürlich wusste sie in dem Moment, als wir die sehr eigenartig klingende Explosion hörten, dass sie, nur sie mit diesem brutalen Anschlag gemeint sein konnte. Und Stella war sich von der ersten Sekunde an sehr sicher, dass es die Mädchen getroffen haben musste. Wir, ihre persönlichen