Auf diesen Angriff antwortet Dolch: „Ich entscheide…, dass nichts geschehen ist. Ich sehe Sie zum ersten Mal, Sie sind nicht Florestans Tochter“. Der positivistische Philologe Schattengraber wagt den Einwurf: „Und die Tatsachen?“ Dolch antwortet: „Nahrung für Koprophagen. Ihr seid alle Mistkäfer.“ Der katholische Priester (Père Plantille) wagt einen neuen Einwurf: „Ich bin bestürzt über Ihre Worte. Was wird da aus der Wahrheit?“, worauf Dolch dekretiert: „Ich bin es, der die Wahrheit stiftet.“ (153–154) (Fast gleichzeitig mit Marcel hat Robert Minder in einer Rezension von Karl Kraus’ Beim Wort genommen geschrieben: „Kraus hat nichts von der archaischen Magie Heideggers, dem Böhmeschen Taumel vor dem WORT, das sich in seiner ursprünglichen Reinheit enthüllt und in feurigen Lettern auf den Gesetzestafeln von Todtnauberg, dem neuen Berg Sinai einschreibt.“7) Bei Marcel ruft der Priester aus: „Großer Gott! Welche Häresie!“ Dolch: „Habe ich mich denn je als Katholik ausgegeben? Trotzdem, Frau Elise, empfehle ich Ihnen, diese schamlose Kreatur in einem unserer ausgezeichneten bayrischen Klöster einzuschließen. Was die Disziplin angeht, hat die Kirche ihre guten Seiten.“ Die Szene schließt mit den Worten des Paters: „Diese Huldigung ist eine Beleidigung.“ (155)
Diese Passage ist aufschlussreicher für Marcels Haltung als die Parodie der Sprache Heideggers vom Typ „Die Birne birnt…“, obwohl Marcel ausgehend von der Tautologie „Das Ding dinget“ den „gesunden Hausverstand“ sprachlicher Natur gegen die Hybris des Philosophen und seiner Nachahmer verteidigt. Besonders amüsant ist dabei, dass der Enthusiasmus für die sprachlichen Neuerungen auf Widerstand trifft. Florestans Frau versucht ein „La pêche pèche…“: „Der Pfirsich pfirsicht“, was aber auch bedeuten kann „Der Pfirsich sündigt“. Dolch reagiert auf diese „Impertinenz“ so:
Ich gebe darüber hinaus zu bedenken, dass der Pfirsich wie vielleicht auch die Marille eine exotische, unserem Boden und unserer Sprache fremde Frucht ist und darum in einem viel geringeren Grad als die Birne, der Apfel, vielleicht auch die Pflaume … diese Wesenhaftigkeit, diese Dingheit besitzt, an der mir als Ontologisten besonders gelegen ist. Das sind Import- oder Lehnfrüchte. Die Sprache ruft es in Erinnerung oder kündigt es an. Denken wir daran, dass wir immer von der Sprache zur Sache gehen müssen. Denn die Sprache ist wie ein Tabernakel, in dem die Wesenheiten aufbewahrt sind. (80)
Man begreift, dass Heidegger die Komödie „unerquicklich“ gefunden hat, während die „Mistkäfer“, zu denen ich mich zählen muss, gelacht haben. Es bleibt noch zu bedenken, dass Gabriel Marcel 1958 das seit 1987 zentrale Thema des Kampfs um Heidegger in Frankreich gänzlich ausklammert, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Heideggers Denken zum Nationalsozialismus. Ihm geht es nur um die Verteidigung der Vernunft und eines katholischen Realismus. Die Schlussszene ist dafür exemplarisch: Die kultische Dimension Florestans, die von der Florestan Forschungsgesellschaft gepflegt wurde, wird durch ein Paar Patschen entmystifiziert, die Frau Melitta, seine Witwe, für Florestan gestickt hat und mit denen sie jetzt ihre kalten Füße wärmen will. Die Patschen und die Dimension Florestan sind für den Philologen inkompatibel. Der Pater erklärt jedoch: „Sogar in dieser Gesellschaft hat sich wahre Zärtlichkeit inkarniert, nämlich in den Patschen. Dagegen finde ich in der anderen Dimension nichts als Eitelkeit und Wahn. […] Der gesunde Menschenverstand und die Liebe lassen sich nicht ungestraft trennen.“ Frau Melitta behauptet: „Florestan hat nie etwas anderes gesagt.“ Der Pater hat das skeptische letzte Wort: „Vielleicht, vielleicht, gnädige Frau, aber ich werde heute Abend für die unsterbliche Seele Gustav Affenreiters beten.“ (158)
Gabriel Marcel hat sein Stück mit einem erklärenden Nachwort und dem Abdruck seines Vortrags über den Untergang des gesunden Menschenverstandes aus dem Jahre 1954 versehen. Er insistiert auf dem theatralischen Charakter seiner Personen, zögert aber nicht zuzugeben, bewusst Heideggers Sprache im Namen Molières zum Ziel seiner „grausamen Kritik“ gemacht zu haben. In Sachen Rilke geht es ihm nicht um Rilkes Werk, sondern um die absurde „Idolatrie“, die mit dem Dichter als Religionsersatz getrieben werde. Heideggers Sprache und erst recht ihre Imitation bei seinen (französischen) Schülern ist für ihn ebenso wie der Dichterkult ein Symptom des Verlusts des „gesunden Menschenverstandes“, der in der französischen Tradition in der Literatur (Molière als absolutes Vorbild) wie in der Philosophie (von Descartes bis Bergson) immer als Korrektiv gegen das „Unverständliche“ (abscons) (162–163) am Werk gewesen sei. Marcel bekennt auch, dass er seine Komödie ursprünglich auf Deutsch gedacht habe und dass ihr wahrer Titel das Wortspiel mit der Wacht am Rhein gewesen sei. (159) Damit hat er den wunden Punkt Heideggers getroffen, der zugleich seinen Ruhm begründete: Dieses Denken ist essentiell an die deutsche Sprache gebunden und im Prinzip unübersetzbar (wie die Lyrik). Man bedenke, dass Sein und Zeit von 1927 erst 1985 vollständig ins Französische übersetzt wurde, zunächst in einer vom Verlag Gallimard nicht autorisierten Raubübersetzung, dann in einer offiziellen, allgemein als unleserlich und unbrauchbar kritisierten. Bemerkenswert daran ist, dass das größte philosophische Buch des 20. Jahrhunderts 60 Jahre lang nur auf Deutsch vollständig zugänglich war, sprich dass die Heidegger-Schüler in Frankreich die deutsche Sprache beherrschen mussten. Heidegger hat das selbst mit Befriedigung festgestellt: „Wenn die Franzosen denken, denken sie deutsch“8 (sprich Heidegger). Denn denken kann man ohnehin nur in zwei Sprachen: griechisch und deutsch. Gabriel Marcel hat diese Herausforderung sehr wohl gespürt, aber gleichzeitig die Philosophie und die hegemoniale Position Heideggers im Feld des Denkens nicht wirklich in Frage gestellt. Diese Infragestellung ist erst erfolgt, als man entdeckte, dass es eine gewisse Synchronie zwischen der Sprache Heideggers und der LTI gab. (Die auf dieser Tatsache fußenden Komödien sind eher in der österreichischen Literatur bei Bernhard und Jelinek zu finden). Man kann sich schwer die Fehden vorstellen, die in Frankreich für oder gegen Heidegger ausgetragen werden.
Hier eine kleine Seitenbemerkung zum genius loci des Brenner-Archivs: Im Gegensatz zu Marcel ist Ludwig von Ficker in die Heidegger-Falle gegangen (vor allem auf Grund der Trakl-Deutung und des Feldwegs), obwohl klarsichtige Korrespondenten, allen voran Ruth Horwitz, die Ehrlichkeit des Philosophen mit guten, nämlich Kraus’schen Argumenten in Zweifel gezogen hatten.9 Mir bleibt rätselhaft, wie Ficker das Unternehmen des Brenner in eine essentielle Beziehung zu Heidegger bringen konnte, wo doch alles sie trennt, außer der Sakralisierung Trakls. Das ist umso erstaunlicher, als Theodor Haecker im Brenner 1932 die absolute Gegenposition zu Heidegger im Namen Vergils eingenommen hatte. (Ruth Horwitz beruft sich u.a. auf ein Gespräch ihres Vaters mit Haecker, um den gängigen Einwurf zu entkräften, dass man 1933 „nicht wissen konnte“.)10
In der Wacht am Sein hat der katholische Priester das letzte Wort. Gabriel Marcel war 1929 zum Katholizismus konvertiert und wurde zu einem herausragenden Vertreter des „katholischen Existenzialismus“, der sich in seinen Essays unentwegt mit führenden Vertretern der französischen Philosophie auseinandersetzte, allen voran Sartre und Camus. In der Wacht am Sein versucht am Beginn der junge Franzose Denis bis zum Professor vorzudringen, wird aber abgewimmelt. (Heidegger ist auf einem Waldspaziergang). Er provoziert die Sekretärin und den katholischen Priester, der hinter dem „Seyn“ ein Pseudonym Gottes sieht, folgendermaßen: „Sie werden mich nicht daran hindern, dass sich die Avantgarde der jungen französischen Philosophie um den Professor Dolch als den bekanntesten Vorkämpfer des zeitgenössischen Atheismus schart.“ (11) Eine kaum verdeckte Anspielung auf