Nach der Überwindung der nationalsozialistischen Diktatur nahm Ludwig von Ficker seine Vermittlertätigkeit, die er zwölf Jahre nach außen hin unterbrochen hatte, außenwirksam mit der Veröffentlichung der XVI. Brenner-Nummer im August 1946 wieder auf. Er stellt ein paradigmatisches Beispiel für jene Generation von Kulturvermittlern bzw. im Kulturbetrieb Tätigen dar, deren Aktivitäten und Bestrebungen, deren beständige Arbeit an (brieflichen) Netzwerken und transnationalen bzw. transkulturellen Verbindungen in der Nachkriegszeit von deutlicher Wirkkraft waren. In diesem Sinne erschien es für eine Tagung, deren Ziel darin bestand, die Verdienste des Brenner-Herausgebers im größeren Kontext der kulturellen, politischen und sozialen Entwicklungen der Nachkriegszeit abzubilden, nur recht und billig, die Vielfalt der Aktivitäten weiterer kultureller Persönlichkeiten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die kulturelle Bühne (wieder) betraten, genauer unter die Lupe zu nehmen und Netzwerke aufzuspüren, die erst in einer verdichteten Synopse sichtbar werden.
Die Tagung firmierte unter einem – durchaus provokant formulierten – Haupttitel, der die Absicht hegte, anhand der Frage „Pastorale Mummelgreise oder Führer in der Welt des Geistes?“ jene zentrale Dialektik aufzugreifen und auszudifferenzieren, die sich in der Eigen- und Fremdwahrnehmung der Kulturvermittlerpersönlichkeiten spiegelte. Auch an dieser Stelle wirkte der Brenner-Herausgeber indirekt und aus dem Verborgenen heraus auf die Organisator*innen der Tagung ein: Der erste Begriff stammt aus der Feder Ludwig von Fickers selbst, der sich gegenüber dem Nürnberger Verleger Joseph E. Drexel 1955 eingedenk seines fortschreitenden Alters nicht ohne Selbstironie eingestehen musste: „Der Schwerenöter steht wohl Ihnen noch vortrefflich zu Gesicht, aber kaum mehr mir; ich erschrak geradezu, wie ich schon einem verlegen lächelnden pastoralen Mummelgreis ähnlich zu sehen beginne.“2 Das Jubiläum zum Anlass nehmend, eine mehr als sechs Dezennien währende Würdigung (wenn nicht gar in eine Art Hagiographie ausufernde Huldigung) in neuem, kritischem Licht besehen zu wollen, war auch die zweite Wendung dem Briefwechsel entnommen. Der Terminus „Führer in der Welt des Geistes“ geht auf Alfred Eichholz zurück, der Ficker in einem Weihnachtsgruß vom 21.12.1958 auf solch lobende Weise titulierte.3
Der Fokus der Tagung bestand darin, zum einen die häufig nur undeutlich zutage tretende Bandbreite verschiedener durch Vermittlerpersönlichkeiten angestoßener Transferprozesse, die Vielfalt ihrer Aktivitäten sowie die Komplexität ihrer kommunikativen Netzwerke abzubilden. Dabei wurde versucht, Abstand von rein biographischen Deutungsmustern zu nehmen und die Vermittlerfiguren und -persönlichkeiten weniger als autonome Subjekte wahrzunehmen, als vielmehr ihre Tätigkeiten als Manifestationen von im Verborgenen wirkenden gesellschaftlichen Machteffekten im Sinne der diskursanalytischen Positionen Michel Foucaults zu verstehen.
Literarische Vermittlungen und damit verbundene kulturelle Transferprozesse geschahen und geschehen entlang sozialer, politischer und auch wirtschaftlicher Bruchlinien und Verwerfungen; dies gilt in besonderem Maße für die Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Menschheitsverbrechen des Holocaust und des Vernichtungskrieges waren zwar spätestens im Herbst 1945 mit dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher gesellschaftlich präsent, sie wurden jedoch in der Literatur kaum thematisiert. Dennoch bildeten sie, je nach politischem Gepräge in mehr oder minder großer Intensität, ein aufgeladenes diskursives Substrat, das in Österreich andere Folgen nach sich zog als in der Bundesrepublik Deutschland. Dort erreichte die Debatte über die künstlerische Darstellbarkeit des Undarstellbaren eine andere Qualität, als sie in Verbindung mit der kapitalistischen Vereinnahmung jeglicher Kunst im berühmt gewordenen Diktum Theodor W. Adornos gipfelte.
Der kulturelle Austausch zwischen Vermittlerpersönlichkeiten (der in der Regel bi-direktional und trotz der alliierten Besatzung in den meisten Fällen auch transnational funktionierte) und die daraus resultierenden Wirklichkeitskonstruktionen konnten dabei vielfältige Züge annehmen. Zum einen fanden in den meisten Fällen nationale Transfers statt, die im Nachkriegsdeutschland wie auch in Österreich innerhalb der besetzten Gebiete abliefen. Dabei ist zu beobachten, dass die Grenzen der Besatzungszonen physisch wie ideologisch nicht immer leicht zu überwinden waren. Zu den Schwierigkeiten trugen unter anderem ein sich erst langsam wieder konsolidierendes Postwesen, eine mit unterschiedlicher Intensität durchgeführte Postzensur, sowie Papier- und Rohstoffmangel bei. Vielfach waren Weggefährten der Vermittler*innen verstorben, ins Exil vertrieben oder in den Konzentrationslagern ermordet worden. Auf der anderen Seite finden sich aber auch sehr früh schon Bemühungen der kulturvermittelnden Akteur*innen, Austauschprozesse zu initiieren, zu fördern und auszubauen, die auch vor Nationengrenzen nicht Halt machten.
Am 13. April 1965 konnte man anlässlich des 85. Geburtstags Ludwig von Fickers in einer im Forum veröffentlichten Würdigung Friedrich Hansen-Löves unter dem bedeutungsschweren Titel Auctor Austriae folgende Zeilen abgedruckt finden:
Ludwig von Ficker hat mit [dem Brenner] und anderen von ihm verlegten Schriften europäische Geistesgeschichte gemacht. Denn das fast gleichzeitige Auftreten der protestantisch-dialektischen Theologie (am besten vertreten durch Karl Barth) und der existentiellen Seinsphilosophie eines Jaspers oder Heidegger wäre das Wirken Theodor Haeckers, wären ohne die vorsorgliche Herausgebertätigkeit Ludwig von Fickers nicht möglich gewesen. [...] Das alles und noch mehr verdankt die geistige Welt Europas der stets aus dem Hintergrunde sanft leitenden Hand des Herausgebers Ludwig von Ficker. Wenn demnächst, wahrscheinlich angeregt von dem eminenten Dichter und Essayisten W. H. Auden, die angelsächsische Welt Ferdinand Ebner als Zeitgenossen Wittgensteins kennenlernen wird, dann gebührt der eigentliche Dank da[fü]r dem Patriarchen von Mühlau bei Innsbruck.4
Wenn die Rede auf den Herausgeber des Brenner als Lenker, als Fädenzieher im geistesgeschichtlichen Geschehen, als zugleich geschichtsmächtige wie auch Geschichte machende Figur fällt, hat dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt zumeist Irritationen zur Folge. In Kenntnis der Lebensgeschichte Fickers – wobei diese fünf Jahrzehnte nach seinem Tod nicht mehr als bekannt vorausgesetzt werden darf – und in einen größeren zeitlichen Zusammenhang gestellt, offenbart sich angesichts dieses Gedankens eine Paradoxie: Ficker hatte als ‚Auctor Austriae‘ zwar im expressionistischen Jahrzehnt mit der „einzigen ehrlichen Revue Österreichs“, wie der Fackel-Herausgeber Karl Kraus 1913 den Brenner bezeichnet hatte, auf dem kulturellen Feld reüssiert. Nach dem Ersten Weltkrieg, als er mit der Zeitschrift einen inhaltlichthematischen Neubeginn unter nun explizit christlich-philosophischen Vorzeichen wagte, war er aber nur mehr einem eingeschränkten Kreis von Rezipient*innen bekannt, vor allem deshalb, weil er sich bewusst mit dem stärker auf Ferdinand Ebners Individualphilosophie ausgerichteten Konzept des Brenner bis zu einem gewissen Grad mit voller Absicht aus dem literarischen Geschehen der Zwischenkriegszeit ausklammerte.
Zudem konterkariert der Blick in gängige Literaturgeschichten die Annahme, dass Fickers kulturpolitisches Wirken von epochemachender Bedeutung gewesen wäre. Ficker wurde und wird darin bis heute – sofern er überhaupt namentlich Erwähnung findet – als institutionelle Persönlichkeit zumeist im Zusammenhang mit der Person Georg Trakls und dessen künstlerischem Schaffen genannt. Die Verdienste, die sich Ficker als Mäzen und väterlicher Freund Trakls erworben hat, sind zwar unbestritten, und auch sein Bestreben, die Lyrik Trakls nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in den Kanon einzuführen, hat Wirkung gezeitigt. Eine rein auf diesen Aspekt verengte