Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass eine Diskrepanz zwischen einer – zum Teil schon an Hagiographie grenzenden – ehrfurchtsvollen Huldigung in den Nachkriegsjahren bis nach seinem Tod und der weitgehenden Marginalisierung in der öffentlichen Wahrnehmung vor dem Zweiten Weltkrieg festzustellen ist, die heute erneut in die Verengung zu einem wissenschaftlichen Spezialforschungsbereich mündet. Die Gründe für solche Fluktuationen in der Rezeption sind vielfältig und sowohl aufseiten der Vermittlertätigkeit Fickers als auch in der spezifischen historischen Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auszumachen.
Während der Weltkrieg auf den asiatischen Schauplätzen noch einige Monate weiter tobte, begann sich nach der militärischen Kapitulation des Dritten Reiches am 8. Mai 1945 allmählich das gewaltige Ausmaß der Zerstörungen abzuzeichnen, die der Weltkrieg verursacht hatte. Weite Teile Europas lagen in Trümmern, und die Deutschen, die den Krieg in die Welt getragen hatten, mussten in den Ruinen der Städte hausen, die seit 1940 mit stetig steigender Intensität im Zuge des alliierten Bombenkrieges angegriffen und zerstört worden waren.
Der Weltkrieg hatte mehr als 60 Millionen Menschen das Leben gekostet; mehr als 6 Millionen Juden, Kommunisten, Homosexuelle, Sinti und Roma und andere in den Augen des NS-Regimes unerwünschte Personengruppen waren im Zuge des Holocaust systematisch ermordet worden. Die wirtschaftlichen, politischen, vor allem aber die sozialen Folgen von Diktatur und Krieg und die damit verbundenen Fragen nach Schuld und Verantwortung lasteten entsprechend schwer auf den Nachkriegsgesellschaften. Während das besetzte Deutschland bzw. die Bundesrepublik Deutschland aber spätestens ab 1946 gezwungen war, sich aufgrund der Nürnberger Prozesse mit der unrühmlichen Vergangenheit unmittelbar auseinanderzusetzen, konnte man in der Zweiten Republik, schon allein unter Berufung auf die in der Moskauer Deklaration von 1943 festgeschriebenen Rolle als „erstes Opfer der Hitlerschen Aggression“, einen völlig anderen Umgang mit der jüngsten Vergangenheit pflegen. Dies führte zu einem österreichischen „Sonderweg“, zu kollektiven Denkschemata, die die Vorstellung von einer „Stunde Null“ beförderten, im Grunde aber „eine geschickt lancierte Fiktion [darstellten], mit deren Hilfe sich viele aus der Verantwortung, und noch mehr um das schlechte Gewissen geschlichen haben.“5 Vielmehr noch: Kunst und Kultur (und hier in besonderem Maße die Literatur) stellten sowohl in der Bundesrepublik als auch im Nachkriegsösterreich hinsichtlich einer positiven Identitäts(neu)bildung starkes identifikatorisches Potenzial bereit; nicht selten handelte es sich in Österreich dabei um Kunstformen, deren Proponenten noch in der Zeit des Ständestaates bzw. sogar in der Monarchie verhaftet waren.
Nach der Befreiung im Mai 1945 stand die nicht mehr länger zu leugnende Tatsache im Raum, dass auch – oder gerade! – die Vereinnahmung der Kultur maßgeblich zum Aufstieg des Nationalsozialismus beigetragen hatte. In den Jahren nach dem Ende des Weltkrieges musste deshalb auch die Kulturvermittlung zwangsläufig im langen Schatten, den der Nationalsozialismus geworfen hatte, ihren Raum finden. In diesem Schatten fanden verschiedenste Funktionalisierungen statt, bei denen kulturelle Inhalte und Praktiken, je nach ihrer Anschlussfähigkeit, mit unterschiedlichen Bedeutungen neu besetzt oder re-interpretiert wurden. Die inhaltliche Bandbreite reichte dabei in ihrer extremen Polarität von restaurativen Bewegungen, die den Nationalsozialismus gewissermaßen als historischen „Unfall“ auszublenden und an die Zeit vor 1933 bzw. 1938 anzuknüpfen versuchten, bis hin zu avantgardistisch motivierten Kunstprogrammatiken, die diese Restaurationsbewegungen bewusst kritisierten und verurteilten (ein Verweis auf die Sprachkritik, die Ernst Jandl in seinem Werk pflegte, mag hier als repräsentatives Beispiel genügen).
Dieses Spannungsfeld, das sich zwischen konservativen und progressiven Kräften, zwischen avantgardistischer Zukunftsschau und reaktionärem Anknüpfen an Vergangenheitskonstruktionen manifestierte, macht eine Beurteilung der kulturpolitischen Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland so komplex – vor allem, wenn man bedenkt, dass der „geistige Wiederaufbau“ in Österreich, in ähnlicher Form wie der real stattfindende, um den Preis des systematischen Verdrängens der jüngsten Vergangenheit6 passiert war. Dass dabei keineswegs von zwei streng dichotomisch getrennten ideologischen Lagern ausgegangen werden konnte, ist nicht auf den ersten Blick evident; zu eindeutig erschien die Trennung zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten, sichtbar gemacht durch die manifeste Metapher des Eisernen Vorhangs, der als Barriere durch Europa gezogen worden war.
Die einzelnen Beiträge dieses Bandes skizzieren, dass Tätigkeiten, die von Kulturvermittlerpersönlichkeiten in einem bestimmten historischen Rahmen durchgeführt werden, in permanenten Selektions-, Produktions- und Rezeptionsprozessen ihren Niederschlag finden. Ein Fokus, der diese Aktivitäten näher beleuchtet, lässt die Vielfalt, die Dynamik und die Komplexität, aber auch die Kontingenz diskursiver Praktiken dieses Zeithorizonts sichtbar werden. Letztlich gilt es herauszufiltern, „aus welchen Motiven heraus Wissen erworben, nach welchen Kriterien das Wissenswerte selektiert und zu welchen Zwecken die erworbene Information benutzt wurde.“7 Als Ergebnis wird deutlich, dass die Grenzen des Diskurses, d.h. die Grenzen dessen, was gesagt, geschrieben (und damit auch getan) werden kann, variabel sind, sowohl was auf synchroner Ebene die Anbindung an die Ausgangskultur und die von dort ausgehende intra-, inter- und transterritoriale Vermittlung betrifft, als auch in einem diachronen Schnitt. In letzter Konsequenz werden durch den Blick auf die Literaturvermittler*innen insbesondere jene Machtverhältnisse und ideologischen Grabenkämpfe deutlich gemacht, die im Kulturbetrieb der Nachkriegszeit – auch – über Kulturvermittlung und Kulturtransfer verhandelt werden und, wie im eingangs zitierten Beispiel, im Ausdruck des Auctors einen Kulminationspunkt finden können.
Kulturvermittlerfiguren müssen somit grundsätzlich – abseits von hinreichend ausgetretenen biographischen Deutungsmustern oder Subjektkonstruktionen – auf einer abstrakten Ebene als den gesellschaftlichen Machtfaktoren unterworfene wie auch Macht erzeugende Autor-Funktionen innerhalb des Kulturbetriebs einer Gesellschaft aufgefasst werden. Diese diskursiven Funktionsbündel erscheinen in einen sozialen Raum eingebettet, in dem das kulturelle Wirken weniger als intentionaler Akt eines autonomen Subjekts wahrgenommen und interpretiert werden muss, sondern vielmehr als Resultat verschiedenläufiger Prozesse verstanden wird, die durch die Regeln des Diskurses präformiert, kontrolliert und permutiert werden. Friedrich Hansen-Löves normativer Ansatz vom Kulturvermittler, der „Geistesgeschichte macht“, muss gewissermaßen auf die Füße gestellt werden und erfährt dadurch eine Erweiterung: Nicht der Auctor ist es, der als Aktant neue kulturelle Inhalte generiert, er nimmt vielmehr eine bestimmte Position innerhalb jenes Machtgefüges ein, das die Diskurse wie auch die involvierten Körper (d.h. Subjekte) durchdringt.
Dass mit den Beiträgen dieses Bandes die Breite der Literatur- und Kulturvermittler*innen nach 1945 nicht einmal annähernd angerissen, sondern nur eine schlaglichtartige Auswahl getroffen werden kann, versteht sich von selbst. Wichtige Figuren wie z.B. Rudolf Henz, Rudolf Felmayer, Viktor Matejka, Ernst Schönwiese u.a. werden zwar nicht explizit behandelt, das umfangreiche Namensregister illustriert aber, wie weit das Feld der Kulturvermittlung reicht. Dass Hans Weigel am häufigsten auftauchen würde, war absehbar. Dass aber Ernst Schönwiese ebenso präsent war, ist schon eher überraschend, wie auch, dass die Namen von Karl Kraus und Georg Trakl so oft genannt werden.
Literaturvermittlung und Kulturtransfer hängt vielfach auch an Institutionen wie Kirchen- und Religionsgemeinschaften, Schulen, Kulturvereinigungen, Verlagen oder Zeitschriften, bei denen nicht unbedingt Einzelpersönlichkeiten im Vordergrund stehen. Solch breite Kontexte zu berücksichtigen, hätte den Rahmen der Tagung bei weitem gesprengt.
Die Herausgeber*innen, Innsbruck, Februar 2020
Anmerkungen
1 Beispielsweise war das mediale Echo auf den 100. Todestag Georg Trakls im November 2014 ungleich größer als dasjenige auf seinen Mentor, Förderer und Freund Ludwig von Ficker.