»Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen?«
Habicher blickte von seinem Tablet auf, als verstünde er die Frage nicht. Doch noch bevor Nemecek zu einer genaueren Erklärung ansetzen konnte, preschte Obermayr nach vorne: »Mein Kollege meint, ob Sie ungewöhnliche Verletzungen festgestellt haben?«
Nemecek spürte Ärger in sich aufsteigen. Was war heute mit seiner Kollegin los? Drückte er sich so undeutlich aus? Und selbst, wenn dem so wäre: Dachte sie denn, er sei nicht dazu imstande, das selbst zu klären?
»Soweit ich mich erinnere, handelte es sich um ein klassisches Unfallopfer«, mischte sich Gerda Probisch in die Diskussion ein. »Die Details über die unzähligen Knochenbrüche und inneren Verletzungen ersparen wir Ihnen lieber. Oder Herr Doktor, wie sehen Sie das?«
Habicher nickte seiner Vorgesetzten zu, wirkte dabei aber ein wenig zögerlich. »Wir sollten noch erwähnen, dass wir in Zettls Blut 1,8 Promille Alkohol und Spuren von Amphetamin gefunden haben.«
Nemecek zog die Augenbrauen hoch. War man mit einer derartigen Drogenmenge überhaupt noch fahrtüchtig? Aber das war wahrscheinlich wie in dem alten Witz von dem stockbesoffenen Mann, der seine Saufkumpanen bittet, ihn zum Auto tragen: Weil gehen kann ich heute nicht mehr!
»Könnten ihm die Drogen auch ohne sein Wissen verabreicht worden sein?«, zog Obermayr kurzfristig in eine andere Richtung. Was die Frage aufwarf, wo Zettl vor seinem Unfall gewesen war.
Wieder zögerte Habicher mit einer Antwort. Bevor er sich dazu äußern konnte, stellte Probisch fest: »Das herauszufinden, verehrter Herr Chefinspektor, fällt dann ja eindeutig in Ihr Ressort.«
Obwohl er gerne gewusst hätte, was Habicher durch den Kopf ging, musste Nemecek der Gerichtsmedizinerin recht geben. Mögliche Tathergänge durchzuspielen, war sicher nicht ihre Aufgabe. Auf alle Fälle hatte sie damit klargestellt, dass ihr heutiger Termin beendet war.
»Gut, dann bedanken wir uns für Ihren Sondereinsatz und stören Sie nicht länger.« Probisch hob kurz die Hand zum Gruß. Oder wollte sie mit der Geste eher anzeigen, dass die Audienz nunmehr beendet und sie entlassen waren? Das hätte zu dem aristokratischen Gehabe gepasst, das Obermayr so oft an der Gerichtsmedizinerin kritisierte: »Als würden wir noch in der K & K-Zeit leben!«
Von einem Moment auf den anderen verwandelte sich der Sektions- wieder in einen Konzertsaal. Wie sie wussten, wurde die forensische Routine gerne in opernhafter Atmosphäre erledigt. Die klangliche Wucht des einsetzenden Orchesters war überwältigend. Eines Tages würde er Habicher nach der technischen Anlage fragen, mit der er für einen solchen Sound sorgte. Während Obermayr das Reich der Toten fluchtartig verließ, gab sich Nemecek noch kurz den pathetischen Klängen hin, die nun den Raum erfüllten: Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligthum!
Im Hinausgehen fiel ihm ein, dass es Anfang der 70er-Jahre eine Dialektversion zu Beethovens Neunter gegeben hatte, die den Wiener als echten Menschenfreund präsentierte. Alle Menschen sind mir zuwider, hieß es darin sinngemäß, ich möcht’ sie in die Gosch’n hauen. Aufs Maul, in die Fresse, zwischen die Zähne, gingen Nemecek noch eine Zeit lang verschiedene Übersetzungen des wienerischen Ausdrucks durch den Kopf, ohne dass er sich einen Reim darauf machen konnte. Ob diese wortreichen Aggressionen irgendwas mit dem Mordfall zu tun hatten, der nunmehr offiziell war?
Montag, 17:25
Unfälle, die keine Zufälle sind
Auf dem Rückweg ins Kommissariat gab Nemecek Gunther Rüdinger Bescheid. Wie üblich reagierte der Staatsanwalt ruhig und gefasst. In wenigen Worten sicherte er zu, umgehend alle notwendigen Folgeschritte einzuleiten. Mit dem offiziellen Ermittlungsauftrag in der Tasche, rief Nemecek gleich noch einmal in Kärnten an. Unglücklicherweise ging ausgerechnet der junge Ruschitz an den Apparat, der sich ihm gegenüber total ablehnend verhalten hatte. Sogar über das Telefon war seine negative Haltung deutlich zu spüren. Selbst als ihm Nemecek von den neuesten Erkenntnissen der Gerichtsmedizin berichtete, änderte sich daran nichts. Stattdessen wurde er mit wenigen Worten abgefertigt: Nein, Rudi Hinteregger sei derzeit nicht zu erreichen, eine genauere Spurensuche habe es nicht gegeben, jedenfalls sei er nicht daran beteiligt gewesen und über irgendwelche Ermittlungsergebnisse wisse er schon gar nichts. Für ihn sei der Fall abgeschlossen, von einem Mord wolle er nichts wissen, sie hätten wahrlich wichtigere Dinge zu tun, als irgendwelchen Spinnereien aus Wien nachzulaufen. Noch bevor Nemecek angemessen reagieren konnte, hatte sein Gegenüber einfach aufgelegt.
Als sie zehn Minuten später in ihrem Büro eintrafen, war trotzdem wieder ein wenig Ruhe eingekehrt. Nemecek nahm sich Zeit, um seine Tasche auszuräumen: Telefon, Tablet, Notizbuch, Wasserflasche und die Wochenendzeitung, die er erst heute morgen vor seiner Wohnungstür aufgelesen hatte. Betont langsam breitete er alles fein säuberlich auf seinem Schreibtisch aus. Dann schob er seinen Bürostuhl darunter, nahm sein Notizbuch in die Hand und trat vor ihr Ermittlungsboard, das sie seit ihrem Fall in der SafeIT nach Kanban-Prinzipien gestalteten. Höchste Zeit für ihr nächstes Standup-Meeting!
Zukic drehte das Post-it, auf dem Unfall Zettl stand, und begann sofort, den dazu vorliegenden Unfallbericht zusammenzufassen. »Gernot Zettl, geboren am 15. März 1972, kam am 8. August gegen 22 Uhr 30 mit seinem Oldtimer von der Höhenstraße ab, durchschlug eine Begrenzungsmauer, stürzte in den Straßengraben und prallte frontal gegen einen Baum. Zu dieser Zeit hat es stark geregnet, es bestand also erhöhte Gefahr von Aquaplaning. Deswegen konnte das Unfallkommando, das exakt um 23 Uhr 04 am Unfallort eintraf, keinerlei Bremsspuren feststellen. Für Zettl, der nicht angegurtet war, kam jede Hilfe zu spät. Beim Aufprall durchschlug sein Kopf die Windschutzscheibe seines Mini Cooper S und das kleine Sportlenkrad hat sich tief in seinen Brustkorb gebohrt.«
»War sicher kein schöner Anblick«, kommentierte Obermayr mit angewiderter Miene.
»Mit Sicherheit nicht«, bestätigte Zukic. »Die Feuerwehr hat fast eine Stunde gebraucht, um Zettls sterbliche Überreste aus dem Wrack zu befreien.«
Nemecek schüttelte heftig den Kopf, um die blutigen Bilder zu vertreiben, die vor seinem geistigen Auge herumtanzten. Zu oft schon hatte er mit ansehen müssen, zu welch schrecklichen Szenen der Leichtsinn von Autofahrern führen konnte. Unterdessen nahm Obermayr das Post-it Obduktion Zettl in die Hand, das als Nächstes anstand.
»Laut Gerichtsmedizin hatte Zettl zum Zeitpunkt seines Todes 1,8 Promille Alkohol im Blut. Außerdem Spuren von Amphetamin.«
»Speed?«, staunte Zukic. »Wie passend!«
»Klingt nach einem klassischen Fall von drogenbedingter Selbstüberschätzung«, pointierte Obermayr. »Die Kollegen von der Unfallabteilung gehen davon aus, dass Zettl mindestens 80 km/h drauf hatte, als seine Vorderräder aufschwammen.«
Schwungvoll heftete Zukic einige der Fotos auf die Magnettafel, die vom Unfallort gemacht wurden. Auf den ersten Blick war nur ein grell erleuchtetes Spiel von Farben und Formen zu erkennen. Nemecek brauchte eine Weile, um klare Konturen ausmachen zu können: das matte Blau der zersplitterten Windschutzscheibe, das helle Rot des Karosserieblechs, das dunkle Grün der Blätter, dazu die verschiedenen Brauntöne der Sträucher, die Zettls Mini Cooper durchpflügt hatte. Aus irgendeinem Grund hatte der Polizeifotograf das Ganze aus relativ großer Entfernung von schräg oben aufgenommen, dann aber nur einen relativ kleinen Ausschnitt herausgenommen. Wollte er die Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes lenken? Oder war die Distanz so groß, dass er sich später für eine Bildvergrößerung entschieden hatte?
Die weiteren Bilder, die Zukic nun herumreichte, rekonstruierten den mutmaßlichen Unfallhergang: den Straßenverlauf, der genau auf die Spitzkehre zuführte; das nasse Kopfsteinpflaster, das Zettl zum Verhängnis geworden