»Sie können uns sicher einige Personen nennen, mit denen Joschak in letzter Zeit besonders intensive Auseinandersetzungen hatte.«
Pflückinger streckte seinen Rücken durch. Es war ihm deutlich anzusehen, wie er mit sich rang. Um seine eigene Ungeduld zu bezähmen, begann Nemecek im Geiste langsam von zehn herunterzuzählen. Als er bei vier angekommen war, hatte Pflückinger offenkundig einen Entschluss gefasst.
»Nun, Sie finden es ja ohnehin heraus. Ja, es gab zuletzt einige unschöne Szenen, die zu einer Art Lagerbildung geführt haben.«
»Die Namen, Herr Pflückinger!«, zeigte sich Obermayr nun ungnädig. »Wir brauchen Namen, um in diesem Fall weiterzukommen.«
»Also, die Protagonisten des agilen Lagers sind Niels Swartling als gesamtverantwortlicher Change Manager, Johanna Kniewasser, unser Head of Product, sowie Felix Wondratsch und Melanie Wunzer aus den Entwicklungsteams. Gemeinsam mit mir bilden sie das sogenannte Agile Change Team, kurz: ACT, das alle Veränderungsmaßnahmen koordiniert.« Rasch hatte Nemecek die genannten Namen in seinem Notizbuch festgehalten. Beim letzten Namen stutzte er kurz, fand aber auf die Schnelle keine Erklärung dafür. Dennoch ahnte Nemecek, dass ihm diese Melanie Wunzer schon einmal irgendwo untergekommen war. Wo war das bloß gewesen?
»Und die andere Seite?«, gönnte ihm seine Kollegin keine Zeit, um weiter in seinem Gedächtnis zu graben.
»Neben Joschak vor allem Gernot Zettl, unser Head of Operations. Aber der ist ja leider letzte Woche tödlich verunglückt.«
»Das wissen wir schon«, erklärte Obermayr, »und sind gerade dabei, diesen Unfall auf Herz und Nieren zu prüfen.«
Pflückinger verzog das Gesicht. »Sie gehen jetzt aber nicht davon aus, dass auch Zettl einem Anschlag zum Opfer gefallen ist?«
Obermayr warf Nemecek einen kurzen Blick zu, als wollte sie sich stillschweigend mit ihm abstimmen. Doch ihre Richtung war längst klar.
»Die KTU klärt gerade, ob an Zettls Wagen etwas manipuliert wurde.«
Nemecek sah, wie der CEO heftig schluckte, bevor er hinzufügte: »Noch ermitteln wir natürlich in alle Richtungen. Aber die Hinweise verdichten sich, dass die Ereignisse zusammenhängen.«
Und dass diese wiederum etwas mit den laufenden Veränderungen in der Acros zu tun haben könnten, dachte Nemecek für sich. Ein Gedanke, der noch im Raum zu hängen schien, als sie das Büro verließen, nachdem ihnen der CEO jede in seiner Macht stehende Hilfe versprochen hatte, um diese schrecklichen Ereignisse so rasch wie möglich aufzuklären.
Dienstag, 14:20
Verschollene Verdächtige
»Hier spricht die Mailbox von Johanna Kniewasser. Bitte hinterlassen Sie mir eine Nachricht, ich rufe Sie dann umgehend zurück.«
Eine angenehme Stimme, dachte Nemecek, bevor der übliche Pfeifton erklang. Er räusperte sich kurz und hinterließ noch einmal die Botschaft, mit der er bereits den ganzen Tag über hausieren ging. »Guten Tag, Frau Kniewasser. Robert Nemecek hier, Kriminalpolizei Wien. Es geht um die Todesfälle Ihrer Kollegen Joschak und Zettl. Ich hätte da ein paar Fragen an Sie. Wenn Sie mich bitte so bald wie möglich zurückrufen. Vielen Dank und hoffentlich auf bald!«
Kaum, dass er die rote Taste gedrückt hatte, fragte er sich, ob er zu unverbindlich gewesen war. Oder zu freundlich, wie ihm Obermayr schon des Öfteren vorgeworfen hatte. Er schob seine Zweifel zur Seite, um sich wieder Zukic’ Dossier zu widmen. Wenn er schon nicht mit Kniewasser reden konnte, wollte er sich wenigstens mit einigen der Themen beschäftigen, die die Produktmanagerin umtrieben. Zu langsam, zu unzuverlässig, zu fehlerhaft, zu teuer, überflog er die Punkteliste, die sie im Vorwort ihrer Diplomarbeit als Problem Statement zusammengestellt hatte. Um auf der Höhe der Zeit zu agieren, argumentierte Kniewasser weiter, brauchen wir andere Arbeitssysteme. Agile Ansätze unterstützen Unternehmen dabei, rasch auf sich verändernde Kundenbedürfnisse einzugehen, um punktgenau die Produkte zu liefern, die tatsächlich gewünscht sind. Eine konsequente Organisationsentwicklung in diese Richtung sei allerdings ziemlich anspruchsvoll, da sie zwangsläufig viele bestehende Arbeitsroutinen infrage stelle. Ja, mehr noch, so Kniewasser: Agile Unternehmen geraten mit alten Überzeugungen in Konflikt und sorgen damit nicht nur für intellektuelle Herausforderungen, sondern auch für emotionale Turbulenzen.
Turbulenzen, Herausforderungen, Konflikte, hielt Nemecek in seinem Notizbuch fest. Der Text war zweifellos höchst interessant, vor allem, weil er eine Brücke zwischen den agilen Chancen und den Risiken schlug, mit denen man aus unternehmensentwicklerischer Sicht rechnen musste. Bald jedoch merkte er, dass er nicht recht bei der Sache war. Während seine Augen über die Zeilen wanderten, drifteten seine Gedanken beharrlich in Richtung Kniewasser ab. Welche neuen Aspekte der veränderungstypischen Spannungen würde er durch ihre Arbeit und Ausführungen entdecken? Welche Rolle spielte die oberste Produktmanagerin der Acros in diesem ganzen Wirrwarr an alten Verbindungen und neuen Verstrickungen? Und wie viel hatte sie mit den Todesfällen ihrer Kollegen zu tun?
Nemecek überflog die biografischen Eckdaten: Geboren 1990 in Micheldorf in Oberösterreich, Volksschule und Gymnasium ebendort, danach Höhere Technische Lehranstalt für Kraftfahrzeugtechnik in Steyr. Ab 2008 Diplomstudium der Wirtschaftsinformatik, Abschluss 2012 mit einer Arbeit zu »Agile Produktentwicklung – Ein Versprechen für die Zukunft«. Bereits während des Studiums als Werkstudentin bei der Veith Stahl AG tätig. Erster Vollzeitjob 2008 als Delivery Managerin bei der Ambusch Software Services GmbH, danach als Produkt- und Portfoliomanagerin in verschiedenen Unternehmen in Deutschland und der Schweiz tätig. Berufsbegleitendes MBA-Studium von 2009-2011. Weiterbildungen zum Certified Product Owner (2012) und Certified Agile Leader (2016). Diverse Vorträge auf agilen Konferenzen und Meetups.
Neben ihren beruflichen Leistungen als jemand, der nach eigener Aussage für die Agilität lebte, sorgte Kniewasser auch durch ihr Hobby für Aufsehen. Sie betrieb nämlich eine eigene Website mit dem klingenden Namen Oldies But Goldies, auf der sie jede Menge Tipps für Liebhaber alter Autos gab. Dort posierte sie mit Klassikern wie einem Triumph Spitfire aus dem Jahre 1966, einem Ford Taunus aus dem Jahr 1961 oder einem giftgrünen MG Roadster aus dem Jahr 1960, aber auch mit einigen Motorrädern. Anscheinend ließ sie ihre Kenntnisse als Kfz-Technikerin nie einrosten. Im Gegenteil: Auf einer Unterseite dokumentierte sie minutiös, wie sie beim Bau ihres eigenen Motorrads auf der Basis einer alten Honda 750 Four vorgegangen war.
Nemecek klickte sich durch die Fotogalerie. Auf jedem Bild strahlte Kniewasser mit ihren polierten Oldies um die Wette. Eine attraktive Frau mit der Ausstrahlung von jemandem, mit dem man Pferde stehlen kann. Sicher kein Nachteil, wenn es um ein modernes Management ging, das ganz wesentlich auf wechselseitigem Vertrauen aufbaute.
Nemecek versuchte, die virtuelle Hochglanzpräsentation mit dem Mord an Joschak zu verbinden. Sie wirkte kräftig genug, um ein Boot auch bei rauem Seegang auf Kurs zu halten. Fragte sich bloß, welches Motiv sie für einen Mord haben sollte. Konnten die Konflikte rund um die Veränderungen in der Acros derart eskaliert sein? Hatte es Joschak mit seinem Widerstand gegen die Agilisierung des Unternehmens übertrieben? Oder ging es gar nicht um berufliche Zusammenhänge, sondern um eine private Geschichte?
Erneut spürte Nemecek Ärger in sich aufsteigen. Die letzten Stunden hatten ihm nicht im Geringsten geholfen, zu richtungsweisenden Antworten zu kommen. Zuerst hatte er von der Wiener Zentrale erfahren, dass Kniewasser seit letzter Woche in Oberösterreich arbeitete. Als er daraufhin beim Linzer Acros-Büro anrief, hieß es wiederum, dass sich Kniewasser kurzfristig frei genommen habe. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, sie mobil zu erreichen, wandte sich Nemecek erneut an das Büro. Er wurde zwar unzählige Male hin und her verbunden, erfuhr dabei jedoch nicht viel mehr, als dass die Produktmanagerin vermutlich aufs Land gefahren war.
»Wahrscheinlich