Tod dem Management. Siegfried Kaltenecker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Siegfried Kaltenecker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная деловая литература
Год издания: 0
isbn: 9783969101506
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auf den ersten Blick stand das klassische Konzerngebäude vor ihnen in scharfem Kontrast zu dem architektonischen Spektakel, dem sie ein Jahr zuvor bei ihrem Fall in der SafeIT begegnet waren. Schwer vorstellbar, dass die Acros ganz auf dieselbe agile Karte setzte, um etwas Ähnliches zu verwirklichen wie der vielgelobte Vorzeigebetrieb. War das überhaupt möglich? Schließlich handelte es sich bei der Acros um einen internationalen Konzern mit vielen Tausend Mitarbeitern, während der Cybersecurity-Spezialist im 20. Bezirk ein familiengeführtes Unternehmen mit knapp 200 Angestellten war. Mal ganz abgesehen von der Frage, ob man hier überhaupt nach denselben Managementprinzipien vorgehen konnte, geschweige denn mit demselben Veränderungsansatz.

      Nemecek ahnte, dass er auf diese Fragen keine schnelle Antwort finden würde. Fürs Erste war er einfach gespannt, wie gut das Innenleben der Acros zur äußeren Erscheinung passte. Allerdings erwartete er nicht allzu viel, nachdem sogar die den Eingang umflatternden Fahnen mit dem Firmenlogo seltsam farblos wirkten.

      Brauner Teppich, beige Wände, niedrige, auf grobkörnigen Betonpfeilern ruhende Decken, sah er seine Vorurteile beim Betreten des Gebäudes sogleich bestätigt. Selbst die Yucca-Palme rechts vom Empfang hatte garantiert schon bessere Zeiten gesehen. Der schmale Tresen, an dem sie ihre Dienstausweise präsentierten, war mit löchrigen Paneelen verkleidet. Welcher Designer dachte sich so etwas aus? Die Mitarbeiterin, die mit einem zwischen Schulter und Kinn eingeklemmten Telefonhörer hinter dem Tresen saß, warf nur einen kurzen Blick auf ihre Ausweise, bevor sie wortlos die Zugangssperre öffnete.

      »7. Stock, Chefetage«, erklärte Obermayr, als sie den Lift betraten. Nemecek nickte. Auch er hatte im Vorübergehen die goldene Hinweistafel überflogen. Wenig später verkündete ein dumpfes Klingeln, dass sie ihr Fahrtziel erreicht hatten. »Kriminalpolizei«, begrüßte Obermayr die Frau mit den kurzen schwarzen Haaren, die hier offensichtlich den Zugang hütete. »Wir haben einen Termin mit Dr. Pflückinger.«

      Nachdem sie kurz aufgeblickt hatte, wandte sich die Frau wieder den vor ihr liegenden Unterlagen zu. »Der Herr Direktor erwartet sie schon.« Dann drückte sie eine quadratische Taste auf ihrer altmodischen Telefonanlage und verkündete, dass die Herrschaften von der Polizei angekommen wären.

      Im nächsten Moment flog die dunkel furnierte Bürotür auf und gab den Blick auf einen groß gewachsenen Mann frei. 1 Meter 90, etwa 50 Jahre alt, glattrasierter Kopf, Wohlstandsbauch, registrierte Nemeceks Radarsystem augenblicklich. »Reto Pflückinger«, begrüßte sie der Vorstandsvorsitzende der Acros mit einem strahlenden Lächeln, das den Blick auf makellose Zähne freigab. »Willkommen in unserer Villa Fürchterlich!«

      Obermayr grinste. »Wenn man sich hier so umsieht, scheint mir das ein treffender Name zu sein. Aber wie wir gehört haben, ziehen sie bald um.«

      Nemecek blickte seine Kollegin überrascht an. Woher hatte sie denn diese Information? War ihm da etwas entgangen? Oder hatte sie heimlich mit Zukic gesprochen?

      »Gott sei Dank ist der Neubau fast fertig«, seufzte der CEO erleichtert. »Dieses schreckliche Labyrinth passt so gar nicht zu dem, wie wir in Zukunft arbeiten und uns präsentieren wollen.«

      Locker, offen, leutselig, pointierte Nemecek seine ersten Eindrücke, gekrönt von diesem Schweizer Akzent, den er seit jeher sympathisch fand. Pflückinger trug weder Sakko noch Krawatte und hatte die Ärmel seines blütenweißen Hemds bis zu den Ellbogen aufgekrempelt. Das bestärkte das Image des engagierten Baumeisters, das ihm zugeschrieben wurde. Wenn sich Nemecek recht entsann, hatte sich der Schweizer seine Sporen in namhaften Technologieunternehmen verdient, war aber auch in Infrastruktur- und Automobilbetrieben tätig gewesen. Dabei kam der promovierte Telematiker nicht nur branchen-, sondern auch ländermäßig ganz schön herum: USA, Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland, erinnerte sich Nemecek an das eindrucksvolle Profil, das seine Assistentin aus dem Internet gefischt hatte. Laut Selbstbeschreibung sah sich Pflückinger als jemand, der eine starke Vision verfolgte und sich nicht zu schade war, kräftig mit anzupacken, um diese zu verwirklichen. Und natürlich verfügte er ebenso über die vielzitierte Handschlagqualität, ohne die heutzutage kein Spitzenmanager auszukommen schien.

      Nemecek war nicht so naiv, all das für bare Münze zu nehmen. Ihm war klar, dass dahinter ein geschicktes Marketing steckte, das sich nicht immer an dem orientierte, was ein Manager tatsächlich bewirkte. Oder überhaupt bewirken konnte – schließlich hielt er die Vorstellung eines souveränen Unternehmenslenkers, der hochkomplexe Zusammenhänge quasi per Knopfdruck steuerte, für völlig realitätsfremd.

      Erst kürzlich hatte er mit Bettina wieder über die unheilvolle Verbindung von Machtfülle und Selbstüberschätzung diskutiert, die sie im Universitätsbereich erlebte. Natürlich konnte ein Institutsleiter, ein Dekan oder ein Rektor weitreichende Entscheidungen treffen; dass sie dabei mitunter unerwünschte Nebenwirkungen übersahen und zugleich völlig ausblendeten, dass die Umsetzung vieler Entscheidungen nicht in ihrer eigenen Hand lag, stand freilich auf einem anderen Blatt. Innerhalb des Polizeiapparats, der ähnlich hierarchisch organisiert war wie die Universität, wurden die zahlreichen Abhängigkeiten, mit denen es jedes Management zwangsläufig zu tun hatte, ebenfalls konsequent ausgeblendet. Oder darauf beschränkt, dass »die unten« von denen »da oben« abhängig waren – nicht umsonst sprach man ja immer noch von Vorgesetzten und Untergebenen. Dass das Gegenteil ebenso zutraf und jede Art der Führung davon abhing, dass Menschen folgten, wurde weit weniger beachtet. Im Laufe der Diskussion hatte sich seine Frau sogar zu einer kleinen Brandrede hinreißen lassen: Manager, so ihre Pointe, würden überhaupt nichts bewirken, wenn die Leute nicht bereit waren, ihr Bestes zu geben.

      »Der blinde Fleck der Macht«, nannte Bettina diese Top-down-Abhängigkeit, die sie an der Universität so intensiv erlebte. Nemecek hatte der Ausdruck so gut gefallen, dass er ihn später in seinem Notizbuch festhielt. Jetzt fragte sich Nemecek, ob auch Pflückinger diesen blinden Fleck teilte. Oder verfolgte der Schweizer, der sich ja dezidiert vom traditionellen Management abgrenzte, tatsächlich einen anderen Kurs? Bedeutete der Begriff agiles Management weit mehr als ein modisches Label? Fürs Erste eilte dem neuen CEO ein ausgezeichneter Ruf voraus, sodass man gespannt sein durfte, was sich bei der Acros tatsächlich verändern würde – obgleich man nach den wenigen Monaten, die er in Amt und Würden war, sicher noch keine Wunderdinge erwarten durfte.

      »Nehmen Sie doch bitte Platz«, holte ihn Pflückinger aus seinen Überlegungen wieder in die Gegenwart ihrer Ermittlungen zurück. »Was darf ich Ihnen anbieten? Kaffee, Tee, Wasser?«

      »Danke, Wasser reicht uns vollkommen.«

      Geduldig verfolgte Nemecek, wie ihr Gastgeber nach der bereitstehenden Karaffe griff, um die Gläser zu füllen. Bereits im Wagen hatte er sich mit Obermayr darauf verständigt, dass sie dem Manager den Vortritt lassen würden. Dementsprechend neugierig durfte man auf dessen Eröffnung sein.

      Sie mussten nicht allzu lange warten. Denn kaum, dass er die Karaffe abgestellt hatte, sagte der CEO: »Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass mich Ihr Besuch überrascht.« Pflückinger wartete kurz, damit seine Worte die erhoffte Wirkung erzielen konnten. »Bislang bin ich davon ausgegangen, dass Joschak bei einem Schwimmunfall ums Leben kam. Und jetzt sitze ich der Kriminalpolizei gegenüber?«

      »Bei solchen Unfällen sind wir verpflichtet, die genaueren Umstände zu klären«, fühlte sich Obermayr sofort zu einer Erklärung angehalten, merkte aber selbst, wie fadenscheinig diese klang.

      »Verstehe«, erwiderte der CEO nach einer weiteren Pause. Allerdings war ihm deutlich anzusehen, dass das Gegenteil zutraf. Demonstrativ blickte er auf seine Armbanduhr, die mit Sicherheit ein paar Monatsgehälter verschlungen hatte – zumindest von den Gehältern, die ein Kriminalkommissar durchschnittlich verdiente. Dann presste er seine Fingerspitzen aufeinander, um mit seinen Händen eine jener Rauten zu formen, die die deutsche Bundeskanzlerin weltberühmt gemacht hatte. Das sollte zweifellos eine Botschaft sein.

      »Wie genau kann ich Ihnen helfen?«

      »Erzählen Sie uns doch für den Anfang einmal, wie es so war, mit Joschak zusammenzuarbeiten.«

      Während Nemecek sein Notizbuch aus der Tasche kramte, fiel ihm auf, dass Obermayr ebenfalls eine Händeraute gebildet hatte. Spiegeln, nannte sie diese