„Ihre Uniform gefällt mir nicht“, entgegnete sie fest.
„Oh …“, sagte Eckstadt. Er lächelte gequält. „Die SS-Uniform meinen Sie?“
„Mein Vater sitzt im KZ“, versetzte sie ruhig. „Er hat am Stammtisch einen Witz erzählt. Heimtücke … nennt man das wohl. Sie werden verstehen, daß ich keine Lust habe, mit seinen Bewachern zu flirten.“
Werner schluckte.
„Ich bin kein Bewacher Ihres Vaters … Ich könnte dort genauso sitzen.“ Er dachte daran, wie er sich beim Hauptsturmführer gemeldet und um Versetzung zur Wehrmacht gebeten hatte. „Ich habe mir die Uniform nicht ausgesucht. Man hat sie mir zugeworfen. Damit Sie es genau wissen: ich bin hineingepreßt worden.“
Er drehte sich um und ging.
Sie sah ihm nach.
Am Abend, als die Lampen ausgegangen waren, als das Lazarett schlief, stand sie plötzlich vor seinem Bett. Er spürte ihre Nähe, bevor er sie noch sehen könnte. Seine Hand griff ins Leere, dann faßte sie Brigittes Arm.
„Es tut mir leid“, flüsterte sie.
Er antwortete nichts. Der Druck seiner Hand wurde fester. Er fühlte, wie sie zitterte. Sie ist höchstens 20, dachte er.
Es lagen mindestens 15 Mann auf der Stube. Ein paar schnarchten, andere stöhnten im Traum vom Krieg. Es stank nach Eiter. Das Zimmer war überheizt. Sie saß auf seinem Bett. Er atmete ihren Duft, er zog sie an sich.
Ihre Lippen waren weich und zärtlich. Da zog er sie noch fester an sich. Sein verwundeter Arm hatte auf einmal Kraft. Freilich, hinterher schmerzte er. Aber in diesen langen, brennenden Sekunden spürte er es nicht.
Sie machte sich von ihm frei, stand auf, lächelte ihm zu. Wieder stöhnte einer im Schlaf. Wieder schrie einer um Hilfe, und hinten schnarchte der Doppelamputierte.
In diesem stinkigen, überheizten Raum, in dieser schmutzigen, traurigen Umgebung hatten sich zwei junge Menschen gefunden. Es war nur eine flüchtige Zärtlichkeit gewesen, aber Brigitte und Werner wußten von da an, daß sie zueinander gehörten.
Am nächsten Morgen kam sie wieder.
„Die Amerikaner sind in der Stadt“, raunte sie ihm zu. Sie hätte es auch laut aussprechen können. Jeder wußte es, und die meisten freuten sich darüber.
Am Abend huschte Brigitte wieder in den Saal.
„Du mußt hier ’raus, Werner“, sagt sie leise. „Die SS wird von den Amis in besondere Lager zusammengetrieben.“ Ihr Atem ging hastig, sie drängte. „Ich habe ein kleines Zimmer hier in Reichenhall … Wir warten nur noch die erste Aufregung ab. Dann kommst du zu mir.“
In dieser Minute hatte Werner alles vergessen. Wie er meinte, hoffte, glaubte, für immer. Aber die Hölle hatte ihm nur für ein paar Tage Urlaub erteilt …
Alles ging nach Brigittes Willen. Von einem Gang in den Waschraum kam Werner nicht mehr in das Krankenzimmer zurück. Sie hatte an alles gedacht. Sogar seine Papiere verschwanden aus der Schreibstube des Lazaretts.
Sie schmiedeten Zukunftspläne. Brigitte wollte weiter Medizin studieren. Und Werner wollte … irgend etwas, was ihnen zusammen ein glückliches Leben ermöglichen würde. Er lag tagsüber allein in ihrem Zimmer. Am Abend kam sie, strich mit ihren zärtlichen Händen über sein heißes Gesicht. Sie war gleichzeitig Ernährerin, Krankenschwester und Geliebte.
Aber vor dem neuen Leben lag eine Hürde. Je mehr Werner der Genesung entgegenging, desto öfter dachte er daran. Er mußte wieder in die Legalität zurück, Papiere bekommen, offiziell aus der Wehrmacht entlassen werden … aus der Wehrmacht, nicht aus der SS!
„Ich werde mich melden“, sagte er eines Tages zu Brigitte.
„Warum?“ Ihre Augen wurden ängstlich. „Sie werden dich in ein Lager stecken.“
„Das tun sie so oder so“, antwortete er, „und es ist besser, ich komme freiwillig, als daß sie mich eines Tages holen. Verstehst du? Im Lager werde ich nicht ewig sitzen. Sie haben ja viel zu viele geschnappt. Sie entlassen schon die Landarbeiter und Jugendlichen. Na, da bin ich eben Landarbeiter.“
Brigitte senkte den Kopf. Er hatte ja recht. Aber es war ihr nicht wohl dabei. Zwei Tage blieb er noch. Zweimal 24 Stunden.
Er ging, wie er meinte, für höchstens drei Wochen …
Brigitte weinte nicht.
„Geh schnell … bitte, geh schnell!“ Dann krampfte sie die Hände ineinander.
Er stellte sich auf der amerikanischen Stadtkommandantur. Die Amis waren nicht unfreundlich. Aber sie behielten ihn gleich da. Mit 50 anderen PWs wurde er auf einem riesigen Truck in das Kriegsgefangenenlager nach Bad Aibling gefahren.
Seine Wunde eiterte. Er mußte zum Arzt. Zu einem amerikanischen Arzt. Der Gipsverband wurde aufgeschnitten.
Der Captain zögerte eine Sekunde, starrte auf die Wunde, säuberte sie eingehend mit Alkohol, verband sie frisch. Er sagte kein einziges Wort dabei. Wenigstens zu Werner Eckstadt nicht …
Am Nachmittag wurde sein Name über den Lautsprecher ausgerufen. Er mußte zum Kommandanten, einem Major. Hinter dem Kommandanten ein Mann in olivgrüner Uniform ohne Rangabzeichen.
Sechs Augen musterten ihn streng. Der Dolmetscher saß geschäftig in einer Ecke, aber Werner winkte ab. Er sprach ja perfekt Englisch. Es machte keinen Eindruck auf den Kommandanten …
„Sie sind kein Soldat der Wehrmacht“, begann er, „Sie sind SS-Mann.“
„Wollen Sie das leugnen?“ schoß der Uniformierte ohne Rangabzeichen sofort hinterher, weil er bemerkte, daß Werner angestrengt nachdachte.
„Ich war bei der Wehrmacht“, entgegnete Werner zögernd.
Was sollte ihm passieren? Wer sollte beweisen, daß er tatsächlich bei der SS war? Schließlich hatte die Kugel das Brandmal auf seinem Oberarm … das Blutgruppenzeichen, ausgelöscht. Auch Brigitte hatte ihm bestätigt, daß nichts mehr zu sehen sei.
Ein grausamer Zufall: der Blutgruppenstempel war seitlich der Wunde von Gipsresten verklebt. Deshalb hatte ihn Brigitte nicht sehen können.
„Wenn Sie weiterlügen“, fuhr ihn der Arzt an, „schneiden wir Ihnen den Verband noch einmal herunter.“
„Wie hieß Ihre Einheit?“ bellte ihn der Uniformierte ohne Rangabzeichen an.
„Sagen Sie die Wahrheit!“ drohte der Kommandant.
Aus, dachte Werner, bleib bei der Wahrheit, das ist noch das beste. Den Kopf werden sie dir nicht herunterreißen.
„SS-Division Leibstandarte“, erwiderte er leise.
„Gut, daß Sie nicht leugnen“, sagte der Lagerkommandant versöhnt. Für ihn war die Sache erledigt. Er verteilte Befehle, und er führte Befehle aus. Einer dieser Befehle lautete, den Leuten auf den Oberarm zu sehen.
Aber die Augen des Uniformierten ohne Rangabzeichen verengten sich.
„Oh …“ Er zog den Ton genießerisch in die Länge, „ich bin von der CIC“, fuhr er fort. „Sie wissen wohl nicht, was das ist.“ Er lachte. „Sie werden es noch kennenlernen.“
Es war still. Der CIC-Mann zündete sich eine Zigarette an. Er warf Werner das Streichholz vor die Füße und wendete sich an den Kommandanten.
„This guy has to be arrested …“ Dieser Bursche muß verhaftet werden!
Der Dolmetscher übersetzte es. Aber Werner hatte es sofort verstanden.
Brigitte, dachte er, und schnelle, silbrige Funken tanzten vor seinen Augen. Er sah durch sie hindurch, sah ihren Kopf, ihre Augen, ihr Lächeln. Lautlos formten seine Lippen