5. kapitel
Draußen scheint die Sonne. Kecke, warme Strahlen fallen durch das kleine Fenster, bahnen eine Lichtgasse quer durch den trostlosen Raum, in dem schon Hunderte, Tausende standen, um ihr Leben kämpften, logen, verzweifelten, die Wahrheit beteuerten … voll tödlicher Angst, voll bodenlosen Hasses, voll stumpfer Verzweiflung, voll sinnloser Hoffnung.
Denn der Boden, auf dem das Vernehmungszimmer steht, ist blutig. Der Raum ist inmitten des Konzentrationslagers von Dachau. Die Uniformen der Bewacher haben sich gewandelt. Die Vernehmungsmethoden auch. Das wenigstens hofft Oberst Evans, der Chefverteidiger des Malmedy-Prozesses. Er hofft es noch immer, obwohl es ihm während der Erzählung Werner Eckstadts abwechselnd kalt und heiß überläuft. Aber er läßt sich nichts anmerken. Ruhig und gelassen sitzt er, Stunde um Stunde, jetzt den zweiten Tag schon, auf seinem unbequemen Holzstuhl. Die klugen, wachen Augen des Offiziers lassen den Angeklagten nicht einen Augenblick los …
Und weiter berichtet Werner Eckstadt, manchmal stokkend, manchmal schnell, mitunter heftig und dann wieder leise, verloren, verzweifelt. Fahl und grau ist sein Gesicht, flattrig sind die Hände, fiebrig die Augen. Er wühlt in seiner Vergangenheit …, und er kämpft dabei um seinen Kopf. Stück um Stück bricht er aus der Verschwörung des Zufalls heraus, oft scheint er dabei so fern zu sein, als ginge ihn alles nichts an, dann wieder spürt er die Nähe des Galgens, und das Grauen peitscht ihn vorwärts …
Wochenlang kauerte er auf seiner Pritsche und erlebte wieder und wieder die letzten Jahre und Monate, sah wieder und wieder die kalten Augen des CIC-Mannes, der ihn aus dem Kriegsgefangenenlager aufgefischt hatte, und hörte seine Stimme, die immer wieder sagte: „That’s all“ … Das wär’s.
Dann wurde die Tür aufgestoßen. Zwei Militärpolizisten mit blauen Armbinden traten grinsend ein. Der CIC-Mann schnippte mit den Fingern in Richtung auf Werner. Die Uniformierten gingen auf ihn zu. Der eine der beiden hatte von der reichlichen amerikanischen Heeresverpflegung so viele violette Äderchen im Gesicht, daß seine Backen aussahen wie frisch geöffnete Büchsen Cornedbeef. Seine wasserhellen Augen waren gewöhnt, Menschen als Insekten anzusehen. Er schlenkerte einen Holzknüppel in der Hand und sagte lässig: „Let’s go!“
Dann gingen sie über die Straße des Kriegsgefangenenlagers Bad Aibling. Tausende deutscher Soldaten mit dem weißen PoW auf dem Rücken drängten sich zwischen den Baracken. Es war die Stunde der täglichen Promenade. Man tauschte die Latrinenparolen aus und verkaufte Orden gegen Zigaretten. Werner fing ihre Blicke auf, mitleidige Blicke, mißtrauische Blicke, gleichgültige Blicke. Einer rief ihm zu: „He, Kumpel, was hast du ausgefressen?“
Werner drehte den Kopf. Im gleichen Augenblick fühlte er einen stechenden Schmerz in der rechten Niere. Das Cornedbeef-Gesicht hatte zugeschlagen. Wortlos, aber gekonnt. Werner Eckstadt verfärbte sich. Schweiß lief über seine Stirne. Er ging keuchend weiter.
Sie sperrten ihn in einen Käfig inmitten des Lagers. Hier wurden Verstöße gegen die Lagerdisziplin bestraft. Man mußte bis zu zehn Stunden aufrecht, ohne Wasser und Brot, stehen, ob es regnete, ob die Sonne herabbrannte. Der Platz war kaum größer als ein Quadratmeter. Als sie Werner wieder abholten, hing er kraftlos in den Stäben. Sein verwundeter Oberarm brannte wie Feuer, und seine Zähne klapperten im Schüttelfrost aufeinander.
Sie warfen ihn auf einen Armeelastwagen. Der Lkw rumpelte durch Süddeutschlands sonnengleißende Frühsommerlandschaft. Der Wagen war mit menschlicher Fracht überfüllt. SS-Leute aller Dienstgrade und aller Einheiten, wahllos nebeneinander, Menschen und Schweine.
An Sitzen war in dem überladenen Wagen nicht zu denken. Zwei mitleidige Gefangene ließen Werner zwischen sich auf den Boden gleiten. Er sah nur noch Beine. In seinem Fieberdelirium verwandelten sich die Drillichhosen der Mitgefangenen in bemooste Baumstämme, und wenn der Lkw eine Kurve ausfuhr und die zusammengepferchten Soldaten auf die Seite fielen, dann glaubte Werner Eckstadt, Waldlichtungen zu sehen. Dann wieder wurden die Beine seiner Kameraden zu einer Revue von Chorgirls … und plötzlich sah er Brigitte. Er sah sie ganz deutlich, und er stöhnte. Er wollte seine Arme nach ihr ausstrecken, aber ein genagelter Schuh trat ihm auf die Finger. Da begriff er, daß es vergeblich war, nach ihr zu fassen, daß jede Radumdrehung dieses Lkws ihn weiter von ihr fortführte …
Die Fahrt endete vor dem Gefängnis einer Kleinstadt. Als sie ausgeladen und durch ein Spalier von Militärpolizisten geführt wurden, rief einer von ihnen einem Passanten zu: „Wo sind wir?“
Er erhielt dafür den Lauf einer Maschinenpistole ins Kreuz. Aber der Passant rief zurück: „Schwäbisch-Hall.“
Über dem Portal des Gefängnisses hing ein großes Schild mit einem flammenden Schwert auf blauem Grund, und darüber stand „War Crimes Division“, „Kriegsverbrecherabteilung“.
Werner kam in Einzelhaft. In der Ecke stand eine Pritsche. Daneben als Klosett ein stinkender Eimer. An der Zellentüre war ein Guckloch, und dahinter meinte Werner Eckstadt Cornedbeefs wasserhelle Augen zu sehen.
Plötzlich rasselte die Türe. Und der Mann stand in der Zelle.
„Nix schlafen!“ sagte er und ließ den Knüppel pendeln.
Werner taumelte hoch. Cornedbeef grunzte befriedigt. Er spuckte bräunlichen Tabaksaft aus seinem Mund und ging grinsend hinaus.
Werners Arm brannte noch immer wie Feuer, aber er erholte sich langsam von der Strapaze des Stehkäfigs. Zunächst schien sich kein Mensch um ihn zu kümmern. Werner fragte sich, was die Amerikaner mit ihm vorhatten. Ob sie etwas von mir wissen, dachte er verzweifelt! Und er erlebte immer wieder die Nacht, da er in amerikanischer Uniform hinter den alliierten Linien abgesprungen war. An den Tag danach, als er im Panzer über die Straßenkreuzung bei Malmedy fuhr, dachte er nicht. Er wußte ja noch immer nichts von der entmenschten SS-Treibjagd auf wehrlose Kriegsgefangene. Und er wußte nicht, daß man ihn dafür mitverantwortlich machen würde.
Einmal kam er auf dem Gang mit anderen Häftlingen zusammen.
„Bei welcher Einheit warst du?“ fragte ihn ein Oberscharführer.
„SS-Division Leibstandarte.“
„Dann waren wir bei der gleichen Division“, erwiderte der Mann.
Werner machte ein unbehagliches Gesicht.
„Ich war nur kurz dabei …“
„Nur zum Schluß?“ fragte der Oberscharführer. „Bei der Ardennenoffensive?“
„Ja“, nickte Werner.
„Da war ich auch. Bei welchem Haufen bist du denn gewesen?“
„Bei der Vorausabteilung der Vorhut.“
„Ach nee“, lachte der Oberscharführer, „genau wie ich … Warum hast du Wehrmachtsuniform an?“
„Ich lag im Lazarett. Sie hatten keine andere Uniform“, erwiderte Werner. Was sollte er ihm auch alle Einzelheiten auf die Nase binden.
„So“, sagte der Mithäftling ganz freundlich, „wir dachten schon, du wolltest von unserem Haufen nichts mehr wissen. Es gibt auch solche Brüder …“
Werner schwieg. An diesem Tag brachte man ihm eine K-Ration, die amerikanische Kampfverpflegung für Soldaten im Einsatz. Je drei Mann erhielten einen Karton, der acht Kekse, zwei Beutel Nescafe, ein Büchschen gesalzener Butter, vier Zigaretten, eine winzige Dose Wurst und einen Streifen Früchtebrot enthielt. Die Zigaretten waren herausgenommen, und Wasser gab es auch nicht.
Nach vier Tagen, als Werner gelernt hatte, mit zwei Keksen am Tage auszukommen, holte ihn ein Feldwebel, mit Pickeln im Gesicht, ab. Hinter ihm stand Cornedbeef. Er riß die Augen auf, als er merkte, daß Werner fließend Englisch sprach. Während sie über den Gang gingen, sagte der MP-Soldat:
„Du sprichst Englisch, du Schwein?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er hinzu: „Das ist großartig. Da können wir uns wenigstens noch unterhalten dabei. Das macht mehr Spaß …“
Der Raum, in den Werner