Sie stampfte mit dem Fuße auf: „Ich will, daß du mich verläßt. Sprich kein Wort mehr. Geh’.“
Er zuckte hilflos die Achseln.
Seine Augen wanderten flackernd hin und her: „Karin...“
Sie öffnete die Tür. Dann, als ob er, der noch immer auf einem Fleck stand, zögernd, staunend, ungewiß — als ob er längst das Zimmer verlassen hätte — öffnete sie mit ruhigem Gesicht die Tür, die zum Nebenzimmer führte und verschwand.
Sein gläserner Blick haftete wie festgebannt auf einem hellen Fleck in dem Lack der Tür, wie auf einer unbegreiflich rätselhaften Entdeckung.
Sein Atemzug ging keuchend durch die Lungen, und er hielt den Mund halb geöffnet, wie jemand, der verwundert einem unerhörten Rätsel nachgrübelt.
Es waren kaum zwei Minuten vergangen, als die Tür sich wieder öffnete und Karin in Hut und Jackett erschien. Sie ging an ihm vorüber, ohne von ihm Notiz zu nehmen — als ob sie ihn nicht sähe. Er wandte sich mechanisch nach ihr um und sah ihr mit irrem Lächeln nach, als sie in den dämmerigen Korridor hinaustrat und gleich darauf die Treppe hinunterschritt.
Das Zufallen der Haustür, das mit dumpfem Krach durch das Haus lärmte, ließ ihn nervös auffahren. Er sah sich im Zimmer um, als ob er Abschied nähme von den hundert Dingen, von denen jedes einzelne ihm eine Geschichte bedeutete, weil es mit ihr zusammenhing. Dann tat er einen schweren tiefen Seufzer und ging mit den harten trostlosen Schritten eines alten Mannes die Treppe hinunter.
Als das Auto in die lange graue Straße einbog, tat Karin einen kleinen Schrei: dort vorn ging er.
Sie drückte auf den Ball. Der Chauffeur hielt. Sie warf ihm flüchtig einen Betrag zu, der die Taxe weit überschritt und eilte mit kleinen schnellen Schritten vorwärts.
Er war fast am Portal angelangt, als sie ihn einholte.
„Herr de Coster,“ keuchte sie, noch ganz erschöpft vom hastigen Lauf, „was wollen Sie tun?“
Er sah sie kaum an — nur so ganz flüchtig von der Seite. Dann zuckte er die Achseln: „Meine Pflicht.“
Sie legte die Hand auf seinen Arm, als ob sie seinen Schritt hemmen wollte.
„Tun Sie es nicht“, sagte sie in bittendem Ton.
Er blickte sie ruhig an und machte sich langsam, indem er seinen Arm am Körper hinabgleiten ließ, von ihrer Berührung frei.
Sie standen vor dem Portal. Ihre Augen irrten angstvoll in das graue drohende Haus, aus dessen steinernen Korridoren die Schritte von vielen hundert Füßen kamen, die in hartem und feindseligem Ton zusammenklangen. Treppen, links und rechts, breit und praktisch und gefühllos, zweigten ab und mündeten auf dunkle Türen. Er wandte sich herum und setzte den Fuß auf die unterste Stufe.
„Sie dürfen nicht“, schrie sie. „Sie dürfen nicht hinein, Herr de Coster. Um keinen Preis.“
Sein Blick glitt spähend zu ihr herum. Es schien ihr, als ob in den Tiefen seiner Augen ein tröstliches Licht aufflimmere. Wieder hob sie ihre Hände, die weiß und kalt waren, und ergriff die seinen.
„Sie dürfen nicht“, sagte sie leise, mit einer matten und mutlosen Stimme, über die sie selbst erschrak.
„So, so, ich darf nicht“, wiederholte er endlich, halb scherzend, halb spöttisch. „Wissen Sie auch, was es ist, was Sie da von mir verlangen?“
Sie sah ihn an, erstaunt, fragend.
„Nicht mehr und nicht weniger als die Begünstigung eines Verbrechens. Wer einen Mörder kennt, hat nach dem Gesetz die Pflicht, ihn den Behörden anzuzeigen.“
Sie zuckte die Achseln.
„Es wird Sie wahrscheinlich wenig kümmern, ob ich mich in Ungelegenheiten bringe — ob ich, was vielleicht noch schwerer wiegt, jede Pflicht der Pietät gegen meinen armen Freund in den Wind schlage. Das alles wird Ihnen höchst gleichgültig sein, denn Ihnen kommt es nur darauf an, den Täter zu retten — den Mann, den Sie lieben.“
Sie schüttelte eisig den Kopf. „Ich liebe ihn nicht mehr. Es ist alles aus zwischen ihm und mir.“
Ein fremder Ausdruck trat in seine Augen: ein unruhiges heißes Glimmen.
„Und wenn ich mich nun entschließen würde . . .“
Ein Strahl der Freude ging wie eine jähe Welle über ihr Gesicht.
„Ich wüßte nicht, wie ich Ihnen danken könnte“, sagte sie leise, mit zitternder Stimme.
Er nickte: „Es könnte sein, daß ich Sie beim Wort nähme, Fräulein Karin.“
„Tun Sie es. Meine Dankbarkeit wird keine Grenzen kennen.“
„Sie reden aus dem Überschwang der Stimmung heraus.“
„Nein“, sie faßte nach dem Herzen und schloß die Augen.
„Ich werde nicht vergessen, was Sie für mich getan haben — und — —“
„Und — —?“
„Und“, sie atmete tief und sagte mit abgewandtem Gesicht: „und ich werde nie vergessen, was ich Ihnen eben versprochen habe.“
Er reichte ihr die Hand.
„Dort kommt ein leeres Auto. Ich habe noch verschiedene wichtige Besorgungen. Leben Sie wohl, Fräulein Karin.“
Sie nickte, ohne ein Wort zu erwidern.
Das Auto sauste mit de Coster davon. Sie stand lange vor dem grauen düsteren Gebäude, aus dem noch immer in einem einzigen trostlosen Takt das geschäftige Klappern unsichtbarer Füße ertönte, und sie sah dem Wagen nach, der eben um die Ecke bog. Dann raffte sie sich zusammen. Sie warf noch einen ängstlichen und bekommenen Blick auf das dunkle Tor und auf die grauen, sauber gescheuerten Stufen, dann, mit einer kurzen entschlossenen Wendung ging sie die Straße hinunter in das bunte Treiben des geschäftigen Vormittags hinein.
Es mochte fast drei Stunden später sein, als Karin heimkehrte. Die Mutter sah ihr verwundert entgegen, mit einem bestürzten und traurigen Ausdruck in den Augen.
„Um Gottes willen“, ihre Stimme zitterte, und sie wies auf ein Zeitungsblatt, das vor ihr lag: „Van Diemen ist in der letzten Nacht ermordet worden.“
Karin nickte: „Ich weiß es, Mutter.“
„Von dem Täter hat man keine Spur.“
Sie schüttelte bestätigend den Kopf.
Die alte Frau sah ihr mit ruhigen hellen Augen ins Gesicht, mit einem merkwürdig forschenden Ausdruck — mit einem Blick, in dem eine stumme und durchbohrende Frage lag. Karin fühlte diesen Blick schmerzhaft durch ihren Körper dringen, und sie senkte endlich verwirrt die Augen. Sie versuchte, einen gleichgültigen Gedanken zu fassen — es gelang ihr nicht. Sie sagte sich, daß dies alles eine Täuschung sein müsse, daß ihre bis zur Unerträglichkeit angespannten Nerven ihr Angsterscheinungen vorgaukelten, von denen im Ernst keine Rede sein konnte. Sie hob die Augen wieder. Nein, immer noch ruhte der fragende Blick ihrer Mutter auf ihrem Gesicht.
„War irgend jemand hier?“ fragte sie endlich leichthin, aber sie merkte, wie ihre Stimme zitterte.
Die Mutter erhob sich. Dann, indem sie die Tür öffnete, sagte sie mit einer fremden, tiefen Stimme: „Ein Blumenkorb ist für dich abgegeben worden.“
Karin erschrak. Die Mutter stellte einen umfangreichen Korb auf den Tisch und nahm die Stecknadeln aus dem Seidenpapier. Ein dichter kleiner Wald von Teerosen leuchtete aus der Umhüllung hervor.
„Von wem?“ fragte Karin halb erstaunt, halb schuldbewußt.
Die Mutter zuckte die Achseln: „Es liegt ein Brief daneben.“
Karin riß das Kuvert auf. Zögernd nahm sie die