Der Mann, den niemand sah - Thriller. Paul Rosenhayn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Rosenhayn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726629392
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huschte die Treppe hinunter.

      Das leise Knicken des Schlosses ging durch die stille Nacht.

      Peter van Diemen hielt plötzlich in seiner Wanderung inne, er blickte hinüber, und sie fühlte fast mehr als sie sah: seine Augen weiteten sich und der Ausdruck seines Gesichtes wurde hell, fast glücklich. Er kam mit schnellen Schritten über die Straße, trat auf sie zu und nahm den Hut ab. Sie blickte ihn an, als erwarte sie eine Anrede — ein Wort — eine Erklärung.

      Er schwieg.

      „Ich bin gekommen,“ sie holte tief Atem, und sie fühlte, wie jedes Wort sich widerwillig, fast schmerzhaft aus ihrer Brust löste, „ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen... um Sie zu bitten...“ und plötzlich fuhr sie ganz schnell und kühn fort: „Um Sie zu bitten, meinen Frieden nicht zu stören.“

      Er sah sie unverwandt an, noch immer schweigend, ohne ein Lächeln, ohne eine Bewegung. Endlich nickte er nur langsam. Es war ihr, als ob er eine Schattierung bleicher wurde, aber seine Lippen blieben geschlossen.

      Sie fühlte, wie sie unsicher wurde. Ein seltsamer Mensch war das. Die Situation war in seiner Hand. Sie war gekommen — gehorsam wie ein verliebtes Kammerkätzchen, war hinuntergeeilt in dem Moment, da er, der Herrlichste von allen, erschienen war. Nun stand sie vor ihm mit einem innerlichen Zittern, das er ahnen, fühlen, wissen mußte. Ein paar Worte von ihm konnten die Brücke schlagen von der Ungeschicklichkeit dieser Situation hinüber zu irgend etwas bürgerlich Banalem. Er hatte ein Abenteuer gesucht — hier hatte er es — und er schwieg. Dieser Mensch war doch anders als die Männer, die ihr bisher begegnet waren. Anders als Holger...

      Holger! Sie atmete tief auf und sagte dann, wieder mit festem, fast hartem Ton:

      „Ich bin mit einem andern verlobt...!“

      Wieder sah er sie an. Wieder nickte er, und plötzlich hörte sie den Klang seiner Stimme. Sie schrak fast zusammen.

      „Einem andern verlobt“, wiederholte er, wie unter dem Bann ihrer Stimme. „Ich dachte mir’s. Denn ich bin es gewohnt, zu spät zu kommen.“

      Sie senkte den Kopf. Eine Antwort drängte sich ihr auf die Lippen, aber sie biß die Zähne zusammen, und fast gegen ihren Willen fuhr sie in derselben abweisenden Tonart fort: „Und nun möchte ich gehen.“

      Wieder nickte er. Wenn dieser Mann ein Routinier war — hier ließ ihn seine Routine im Stich. Er hätte irgend etwas sagen können, was auf ihr Mitleid, auf ihr weibliches Tröstungsbedürfnis spekulierte — etwas von einem Zaungast des Lebens — eine jener Phrasen, die jedem zu Gebote stehen mochten, der nächtliche Wege ging. Er hatte hundert Möglichkeiten — und er ergriff nicht eine von ihnen.

      Sie wandte sich langsam zur Seite. Ihre Augen irrten verstohlen über sein Gesicht. Sie sah, daß er den Blick zu Boden gesenkt hatte. Ein trauriger, fast harter Ausdruck lag auf seinen Zügen, wie eine schmerzhafte Resignation. Und plötzlich wandte sie sich zu ihm herum und sagte leise, mit weicher, mitleidvoller Stimme, indem sie ihm scheu die Hand reichte:

      „Es tut mir leid.“

      Er hob den Kopf. Ein glückliches Staunen flimmerte in seinen Augen auf. Langsam beugte er sich nieder und küßte ihre Hände. Sie blieb wie gelähmt stehen, unfähig, sich ihm zu entziehen; dann, mehr schuldbewußt als vorwurfsvoll, riß sie ihre Hände zurück und stürzte ins Haus.

      Er stand ohne sich zu rühren immer auf demselben Fleck und sah mit seinem seltsam verlorenen Blick auf die dunkle Tür, die sich hinter ihr geschlossen hatte. Dann, nach einer langen Pause, wandte er sich herum — —

      „Lump!“

      Vor ihm stand Holger Werling.

      Der Virtuose sah ihn mit einem abwesenden Blick an — ohne Staunen, ohne Zorn — schweigend, fast als ob er ihn verstanden habe. Dann wollte er seinen Weg fortsetzen. Holger Werling packte ihn beim Handgelenk — er ließ es widerstandslos geschehen.

      Außer sich vor Schmerz und Eifersucht griff Holger Werling nach seinem Hals.

      Plötzlich straffte sich die Gestalt des Peter van Diemen, er streckte seine rechte Hand aus und schleuderte jenen mit einer einzigen, fast nachlässigen Bewegung zu Boden. Dann ging er mit ruhigen, sicheren Schritten, wie einer, der einen lästigen Störer abgewehrt hat, auf sein Auto zu und rief dem Chauffeur einen Befehl zu.

      Gleich darauf sauste der Wagen davon — in der Richtung zur Stadt.

      Karin hatte den Kopf an die Stäbe der Jalousie gepreßt und starrte auf die Straße. Was sich dort unten abspielte — sie hatte es verschuldet. Ihr Verlobter mußte an ein geheimes verbrecherisches Einverständnis zwischen ihr und jenem Mann glauben, und er war in seinem guten Recht, wenn er ihn zur Rede stellte. Sie kannte Holgers jähzorniges Temperament. Die Schmach, die ihm hier widerfahren war, würde wie ein Makel auf seiner Seele brennen. Eine Katastrophe, das wußte sie, war unvermeidlich.

      Holger hatte sich taumelnd erhoben. Er starrte dem Auto nach, das eben in die lichtlose Allee einbog, dann ging er mit festen, schnellen Schritten in jener Richtung davon, in der das Fahrzeug verschwunden war.

      Sie wußte, was das bedeutete. Holger kannte van Diemens Adresse: Rhodesia-Hotel. Er selbst hatte es ihr gesagt. Sie mußte versuchen, das Unglück zu verhüten. Sie konnte nicht untätig in ihrem Zimmer bleiben in dieser stillen und trostlosen Nacht, in der ein furchtbares Ungewitter heraufzog. Holger hatte die Gewohnheit, seinen Browning bei sich zu führen.

      Es flimmerte vor ihren Augen. Sie war schuldig — sie mußte handeln, es galt, ein Unglück zu verhindern. Sie war es Holger schuldig, sich selbst — dem andern... Sie mußte irgend etwas tun. Mit fliegenden Pulsen riß sie den Ankleideschrank auf, nahm ihren Hut.

      Der verschlafene Kutscher der einzigen Droschke an dem kleinen Vorstadtbahnhof machte ein erstauntes Gesicht. Sie gab ihm eine Banknote, über deren Größe er fast erschrak. „Rhodesia-Hotel,“ rief sie, „so schnell Sie können.“

      Der Nachtportier sah sie befremdet an. „Ja, Herr van Diemen ist zu Hause. Aber er hat Besuch.“

      „Besuch?“ Sie nickte schwer. „Ich muß zu ihm — auf der Stelle.“

      Der Portier zuckte die Achseln und winkte einen Boy herbei. An dessen Seite ging sie über die teppichbelegten Treppen hinauf in die erste Etage. Die schwüle Luft des großen menschenerfüllten Hauses legte sich schwer und drückend auf ihre Lungen. Der Boy mit seinem verschlafenen Kindergesicht, der verdrießlich vorangeschritten war, machte vor Zimmer Nr. 64 halt und klopfte. Dann ging er mit verdrossener Miene den endlosen Korridor zurück und verschwand in die unteren Räume.

      Niemand antwortete. Durch die geschlossene Doppeltür kam kein Laut. Man mochte das Klopfen kaum gehört haben. Sie pochte zum zweitenmal, und während sie fiebernd wartete, fühlte sie, wie eine wahnsinnige Angst plötzlich durch ihre Pulse jagte. Sie legte die Hand auf die Klinke. Die Tür war unverschlossen.

      Die zweite Tür schimmerte weiß im zittrigen Strahl der einsamen Korridorlampe. Sie riß sie auf und trat ein.

      Das Zimmer war dunkel. Seltsam — der Portier hatte ihr ausdrücklich gesagt, daß van Diemen Besuch habe. Und wieder schoß ihr das Blut jählings empor. Aus der undurchdringlichen Finsternis schien es wie ein fremder heißer Atem ihr entgegenzuströmen. Eine beklemmende Spannung preßte sich auf ihre Brust. Das Schweigen, das über diesem Zimmer lag, war eisig und unbegreiflich. Nichts rührte sich. Kein Schritt, kein Flüstern, kein Laut kam durch diesen Raum.

      Draußen auf dem Korridor huschten hastig leise Tritte vorüber, deren Takt in dem weichen Läufer fast starb. Irgendwo zitterte ein Klingelsignal durch die Luft. Fern klappte eine Tür — dann plötzlich wieder diese entsetzliche Stille, die sich langsam wie die schweren Schwingen eines dunklen Vogels über das Zimmer legte.

      Sie tastete mit der zitternden Hand nach dem Schalter, der sich knipsend drehte. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus. In der Mitte des Zimmers, die starren Augen auf sie gerichtet, stand ihr Verlobter.

      Das Licht schoß schneidend durch den Raum. Sie schloß stumm die Augen und taumelte