Der Mann, den niemand sah - Thriller. Paul Rosenhayn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Rosenhayn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726629392
Скачать книгу
blitzten. Die seltsame Klarheit der Landschaft schien sich ins Unendliche auszudehnen, und der Hauch der leichten Morgennebel dort drüben, wo sich das Gelände in sanfter Wellung bis zum Horizont zog, ging allmählich in silbernen Dunst über. Ein leuchtendes Blau lag auf allen Häusern der kleinen Parkstraße, das die Gegenstände bis ins Innerste zu durchtränken schien und allen Dingen einen seltsam klaren und durchsichtigen Glanz verlieh.

      Es klopfte an Karins Zimmer. Sie erhob sich verstört aus dem unruhigen Schlaf, in den sie gesunken war, blickte um sich, und sah verwirrt auf das Licht, das durch die gelben Vorhänge hereinflutete. Dann ging sie zur Tür. Ihre Mutter stand auf der Schwelle. „Kind,“ sagte sie lächelnd, „das nenne ich einen gesunden Schlaf! Es ist halb zehn, und du bist noch immer nicht zum Frühstück gekommen.“

      Sie strich sich verwirrt über die Stirn. „Ich muß in die Stadt“, sagte die Mutter. „Das Frühstück steht bereit. Zieh’ dich an und geh’ hinaus in den schönen Morgen. Es wird dir gut tun. Geh’ in die Sonne — hörst du?“ Sie nickte zerstreut und schloß wieder die Tür.

      Die Schritte verhallten auf der Treppe; gleich darauf ging die Haustür. Sie wusch sich und zog sich hastig an. Dann ging sie hinunter.

      Im Wohnzimmer stand das Frühstück bereit. Die Ereignisse der letzten Nacht brannten ihr wie ein drückender Traum im Gehirn. Das alles kam ihr jetzt unwirklich vor — so, als ob es nie geschehen wäre. Van Diemen tot — Holger ein Mörder — sie selbst mit genauer Not einer beschämenden verzweifelten Situation entronnen, dank der Gnade eines Menschen, der ihr ein Fremder war. Wieder strich sie sich über die Stirn. Wie nun, wenn das alles nichts als ein furchtbarer Traum gewesen wäre? Ein wirres und graues Gespenst der Nacht, das vor der lächelnden Sonne geflüchtet war, vor der alle Dinge sich in Klarheit und Reinheit auflösen mußten?

      Sie fuhr zusammen. Es klingelte. Sie ging zur Tür und öffnete. Vor ihr stand der Mann, an den sie eben gedacht hatte — van Diemens Impresario.

      Seine Miene war ernst, sein Gesicht bleich. Sie trat einen Schritt zurück.

      „Es tut mir leid,“ sagte er mit leiser schonender Stimme, „daß ich schon am frühen Morgen den Frieden Ihres Hauses stören muß. Aber Sie werden begreifen, daß mir keine Wahl bleibt. Das furchtbare Ereignis von heute nachts — — — “.

      Sie nickte: „Nehmen Sie Platz.“

      Er schien die Aufforderung zu überhören. „Ich komme mit einer Bitte. Ich habe Sie — es ist mir peinlich, Sie an eine — hm — an eine erwiesene Wohltat zu erinnern — aber Sie werden mich verstehen: van Diemen stand mir nahe wie ein Bruder. Nicht das allein — auch materiell gesprochen: sein Tod zerstört meine ganze Karriere. Ich hatte alle Dispositionen für eine große Tournee getroffen und in die Vorbereitungen, die Propaganda, größere Kapitalien gesteckt. Also kurz und gut, alle Recherchen, die bisher angestellt worden sind, laufen in einem Punkt zusammen, verdichten sich auf ein bestimmtes Ziel: das ist der fremde Herr, der in dieser Nacht kurz vor Ihnen van Diemen besucht hat. Sie haben ihn gesehen. Nicht das allein — Sie haben ihn aller Wahrscheinlichkeit nach gekannt.“

      Sie schüttelte den Kopf.

      „Sie haben sich geweigert, mir den Grund zu nennen, der Sie ins Hotel Rhodesia geführt hat. Sie müssen zugeben, daß diese Weigerung zum mindesten befremdlich ist. Sie sind eine junge Dame der Gesellschaft, und es ist sicher kein leichtfertiges Abenteuer, das Sie zu dem Entschluß bringen konnte, mitten in der Nacht einen fremden Mann in seinem Hotel zu besuchen. Wenn Sie hingefahren sind, so hatten Sie sicher einen Grund dafür, der außerhalb alles Materiellen liegt. Es gibt eigentlich nur eine einzige Erklärung für Ihr Kommen: Sie wollten van Diemen warnen. Sie wußten, daß sich irgend etwas Schreckliches ereignen würde, und Sie wollten dieses Schreckliche verhüten. Es gab nur zwei Menschen, die dies zu Erwartende betraf: der eine von diesen beiden war van Diemen — der andere war jener Fremde, den Sie nicht zu kennen behaupten. Es ist von vornherein ausgeschlossen, daß etwa van Diemen die Quelle war, aus der Ihr Wissen stammt. Denn Sie kannten van Diemen nicht.“

      „Woher wissen Sie das?“

      „Ich weiß es — das muß Ihnen genügen. Ich kenne van Diemens Privatverhältnisse und ich kenne alle, die er kannte. Sie habe ich bisher nie gesehen. Wie gesagt, van Diemen scheidet aus. Es bleibt also nur jener Fremde. Von diesem müssen Sie erfahren haben, was bevorstand — was Herrn van Diemen bevorstand. Und das, was Sie von ihm erfuhren, war eben so drohend und so gefährlich, daß Sie sich zu einem Schritt entschlossen, der Ihren ganzen Ruf aufs Spiel setzte.“

      Sie zuckte die Achseln.

      „Ich kann begreifen,“ fuhr er, ein wenig wärmer werdend, fort, „wie schwer es Ihnen sein muß, mir offen und ehrlich die Wahrheit zu sagen. Der, von dem ich spreche, steht Ihnen vielleicht nahe. Aber Sie müssen bedenken, daß ich als Sachwalter eines Mannes vor Ihnen stehe, an dem eine furchtbare Freveltat verübt worden ist, die einzige, die wir kennen, die keine Macht der Erde wieder gutmachen kann. Ich appelliere an Ihr Gerechtigkeitsgefühl — an Ihr Mitleid. Fühlen Sie nicht selbst, daß das Blut Peter van Diemens zum Himmel schreit?“

      Sie schloß einen Moment die Augen und sank in einen Stuhl.

      Er trat auf sie zu: „Jener andere,“ fuhr er ruhig fort, „hat Ihre Rücksichtnahme sicher nicht verdient. Er ist ein Mörder — — —“

      „Nein — — nein!“ schrie sie auf.

      „Er ist ein Mörder! Man hat seinen Revolver am Tatort gefunden. Können Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren, einen Mörder zu schützen?“

      Sie blickte auf: „Man hat — — — seinen Revolver — — —?“

      „Ja. Die Polizei hat ihn im Besitz. Ich versichere Ihnen: kein Mensch wird Ihren Namen erfahren. Sie brauchen keine Minute lang zu befürchten, daß man Sie mit dieser Affäre in Verbindung bringen wird. Keine Zeitung soll Ihren Namen nennen, kein Mensch in dieser Stadt spöttisch oder höhnisch von Ihnen sprechen. Dafür habe ich gesorgt — das sollten Sie bedenken.“

      Sie nickte: „Ich danke Ihnen von ganzem Herzen.“

      „Und ich sage Ihnen nochmals: nun ist die Reihe an Ihnen, zu sprechen, damit der Gerechtigkeit kein Hindernis mehr im Wege steht.“

      Die Treppe herauf kamen Schritte.

      Sie zuckte zusammen: „Meine Mutter“, sagte sie tonlos. „Wie soll ich Ihren Besuch erklären ...?“

      Er zuckte die Achseln: „Irgendein Vorwand wird sich finden lassen. Es tut mir leid, aber meine Anwesenheit hier in diesem Hause ist, weiß Gott, keine müßige. Also nochmals: ich bitte Sie, ich flehe Sie an: wer war dieser Mann?“

      Sie erhob sich. „Ich weiß es nicht“, sagte sie mit fester, ruhiger Stimme. „Ich kann Ihnen seinen Namen nicht nennen.“

      Die Tür öffnete sich; sie blickte scheu und nervös zu Boden.

      Jan de Coster richtete seine Augen auf die Tür.

      Dann hörte sie, wie aus weiter Ferne, seine Stimme: „Also das ist der Mann, den Sie nie in Ihrem Leben gesehen haben?“

      Sie wandte sich verwirrt herum und stieß einen Schrei aus.

      Holger Werling stand vor ihr.

      „Sie haben mich belogen“, sagte Jan de Coster kalt. „Dies ist der Besucher von heute nachts; der Portier hat ihn mir beschrieben. Sie haben es sich selbst zuzuschreiben, wenn ich jetzt alle Rücksicht fallen lasse. Auf Sie — und auf jenen.“

      Und indem er eine spöttische Verbeugung machte, nickte er: „Ich lasse Sie mit diesem unbekannten Herrn allein.“ Dann öffnete er die Tür, warf sie hinter sich zu und ging mit festen Schritten die Treppe hinunter.

      Holger stand einen Augenblick stumm und horchte auf den verhallenden Tritt.

      „Karin,“ sagte er leise, „ich muß dir etwas sagen.“

      Sie schrak zusammen und sah ihn mit Augen an, in denen ein grenzenloses Staunen flimmerte — fast, als ob sie seine Anwesenheit