Der Mann, den niemand sah - Thriller. Paul Rosenhayn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Rosenhayn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726629392
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      Sie fühlte, wie ihr Atem aussetzte, und einen Moment schien es, als ob alles um sie herum anfing, sich in einem unendlichen Wirbel zu drehen. Sie öffnete erschreckt die Augen. Ganz deutlich sah sie die Bilder an den Wänden, die Verzierungen der Möbel, die schnörkeligen Linien auf dem Teppich — alles zog sich unmerklich zu grinsenden Fratzen zusammen, die mit verkniffenen Augen auf sie starrten. Sie sprang auf und stürzte durch das anliegende Zimmer hinaus auf den Flur.

      „Hilfe! Mord!“

      Der Ruf gellte schreiend durch die Korridore. Er brandete empor über die hohen Treppen und schlug an das Ohr der Schläfer. In den Winkeln und Ecken verfing er sich — er brach sich Bahn durch die dunklen Säle und die schweigenden Hallen.

      „Mord!“

      Es wurde lebendig. Ein paar Angestellte vom Nachtdienst, der Portier, ein Kellner erschienen. Karin sah ihnen, blaß und zitternd an die Pfosten gelehnt, entgegen und deutete stumm nach innen. Der Portier sah sie mit einem bedenklichen Blick an und stürzte ins Zimmer. Die anderen folgten ihm.

      Plötzlich fiel ihr Holger ein. Er war verloren. Verloren durch ihre Fassungslosigkeit.

      Gleichviel — hier gab es keine Rücksichten mehr, keine Bedenken, keine Gefühle. Vor dieser einen grausigen unerhörten Tat schwanden alle menschlichen Beziehungen, vor der nackten Realität dieses Geschehnisses stoben Haß und Liebe davon wie fremde Kleinlichkeiten. Sie ging den anderen nach und trat ins Schlafzimmer. Holger Werling war verschwunden. Sie sah sich erstaunt um und nickte, fast ohne es zu wissen. Das Fenster stand offen.

      „Wer hat es getan?“ fragte der Portier mit heiserer Stimme, und ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er hinzu: „Wer war der Herr, der bei ihm war?“

      Sie blickte ihn an. Dann, fast gegen ihren Willen, sagte sie, indem sie die Achseln zuckte: „Ich weiß es nicht. Ich kenne ihn nicht.“

      „Wir müssen Herrn de Coster benachrichtigen“, fuhr der Portier fort. „Wo ist Herr de Coster?“

      „Auf Zimmer 36“, sagte ein Kellner.

      „Wir müssen ihn holen.“

      Eben wollten zwei der Männer das Zimmer verlassen, als die Tür sich öffnete. Auf der Schwelle stand ein junger Herr im Pyjama, der bleich und fassungslos ins Zimmer starrte.

      „Herr de Coster,“ sagter der Portier, „etwas Furchtbares ist geschehen. Herr van Diemen ist ermordet worden.“

      Der Impresario trat näher. Er ging auf den Toten zu, blickte ihm ins Gesicht, und die Blässe seines Antlitzes ging in ein entsetztes Grün über.

      „Mein Gott,“ stammelte er, „wer hat das getan?“

      „Wir wissen es nicht. Ein Herr war hier; dann kam diese junge Dame. Als ich heraufkam, war der Herr verschwunden.“

      „Sie müssen ihm begegnet sein.“

      „Nein,“ der Portier wies auf das Fenster, „er ist entkommen.“

      Der Impresario richtete seine Augen auf Karin. „Sie müssen es wissen“, sagte er heiser. „Wer war der Herr? Was wollte er hier? Sie müssen ihn kennen.“

      Sie schüttelte den Kopf.

      „Ich werde die Polizei benachrichtigen“, sagte der Portier, und indem er sich mit fast drohendem Gesichtsausdruck zu Karin herumwandte, sagte er mit harter Stimme: „Sie bleiben hier.“

      Dann eilte er hinunter ins Parterre.

      Der Korridor war mit Menschen erfüllt. Sie quollen lautlos aus dem Dunkel. Ein Murmeln, das sich verstärkte und zu einem Brausen anschwoll, brandete vor Karins Ohren. Man achtete kaum auf sie. Die Masse drängte hinein in das Zimmer des Toten.

      Karin und der Impresario waren von der Menschenflut hinausgedrängt worden auf den Korridor. Er hatte das Gesicht abgewandt, aber sie fühlte, wie er sie finster und feindselig von der Seite betrachtete. Plötzlich kam ihr das Entsetzliche ihrer Lage zum Bewußtsein. Sie selbst in diesem Hotel — bei van Diemen — welche Erklärung sollte sie dafür geben? Selbst wenn sie versuchen würde, es zu erklären — welcher Mensch auf der Welt würde ihr das Erlebnis dieser Nacht glauben? Sie war kompromittiert, aufs furchtbarste hineingezogen in eine Skandalaffäre. Sie mit van Diemen in ein und demselben Hotelzimmer, und van Diemen ermordet, und weiter — jedes Wort, das sie sprach, um sich zu rechtfertigen, würde die Schlinge zuziehen, die um Holger Werlings Hals lag. Sich retten, hieß ihn ausliefern. In wenigen Minuten würde die Polizei da sein. Dann würde man von ihr Aufklärung verlangen. Was hatte sie mitten in der Nacht bei jenem fremden Manne gewollt? Ihre Dringlichkeit, ihre Eile waren dem Portier sicher aufgefallen, Er hatte ihr gesagt, daß ein Besucher da sei. Er hatte sicher gemerkt, daß eben die Anwesenheit dieses Dritten sie zu solch großer Eile angetrieben hatte. Dieser Dritte war der Mörder. Und sie hatte gewußt, daß er Mordabsichten hatte — ihre Hast hatte es bewiesen; sie mußte also wissen, wer jener Dritte war. Man würde ihr nicht glauben — man würde ihr nicht glauben.

      Und ihre Mutter! Der Morgen dämmerte bereits — ihr Ausbleiben mußte in kurzer Zeit entdeckt werden. Sie war verloren, von einer entsetzlichen Katastrophe betroffen, vernichtet. Aus einer galanten Tändelei war eine furchtbare Tragödie geworden.

      Sie trat auf de Coster zu. „Mein Herr,“ sagte sie mit leiser Stimme, „lassen Sie mich frei.“

      Er sah sie an, erstaunt, ungläubig, ohne ein Wort zu erwidern.

      Das Rollen eines Wagens kam durch den dämmernden Morgen. Ihre Augen suchten die seinen. „Ich bitte Sie, mein Herr,“ sagte sie flüsternd, mit einem verzweifelten Ton in der Stimme, „lassen Sie mich fort, ich flehe Sie an.“

      Er schüttelte den Kopf. „Unmöglich. Selbst wenn ich es wollte... Sie müssen hier bleiben, denn die Polizei braucht Sie.“

      „Ich vermag nichts zu sagen.“

      „Sie müssen wissen, wer jener Mann gewesen ist.“

      „Ich weiß es nicht. Wirklich nicht.“

      „Was wollten Sie denn hier?“

      „Das kann ich Ihnen nicht erklären. Ich bitte Sie nur, mir zu glauben,“ setzte sie dringlicher hinzu, als sie sein ironisches Lächeln sah — „es war nichts Unrechtes, was mich hierher getrieben hat. Kein galantes Abenteuer.“

      Er spitzte den Mund: „Möglich.“

      „Ich schwöre es Ihnen: es ist so, wie ich Ihnen sage. Glauben Sie mir, mein Herr.“ Sie warf einen Blick über ihre Gestalt. „Ich gehöre der guten Gesellschaft an. Der Skandal bedeutet meinen Tod,“ und ihre Stimme sank zu einem Flüstern — — „ich habe eine Mutter.“

      Unten im Hause gingen Türen, Füße scharrten, lautes, kommandogewohntes Sprechen klang drohend herauf, kam langsam näher.

      „Ich bitte Sie,“ ihre Augen füllten sich mit Tränen, „um alles in der Welt, mein Herr, lassen Sie mich fort.“

      Er sah sie an. „Wer sind Sie?“ fragte er.

      Sie öffnete mit zitternder Hand ihr Täschchen und nahm eine Visitenkarte heraus, und indem sie ihre Hand auf die seine legte, setzte sie nochmals hinzu: „Retten Sie mich!“

      Er zuckte die Achseln. Dann, nach einem langen stummen Blick in ihr angsterfülltes Gesicht, ging er an eine Seitentür, schloß sie auf und sagte finster: „Gehen Sie!“

      Der jähe Übergang von der Todesangst zum Gefühl des Befreitseins warf sie fast zu Boden. Ihre Knie versagten den Dienst — sie war nahe daran, umzusinken. Wie ein seliges Jauchzen zitterte es durch ihre Brust, dann plötzlich rissen die nahenden Schritte der Kommenden sie in die Gegenwart zurück.

      „Ich danke Ihnen“, flüsterte sie leise. Dann stürzte sie durch die geöffnete Tür die kleine Nebentreppe hinunter, durch die frisch und lebendig der herbe Morgenduft hereinstrich.

      4.

      Der frische Morgenwind,