„Willst du nicht applaudieren?“
Sie tat es, und fast in demselben Moment sah er in ihre Loge herüber. Dann verbeugte er sich und trat ab.
Das Auto, das Holger Werling bestellt hatte, stand schon knatternd und fahrbereit. Die drei stiegen ein: die beiden Damen nahmen im Fond Platz und Holger klappte den Rücksitz nieder. Ihre Augen irrten an ihm vorüber und glitten spähend durch die Scheiben — mit einem nachdenklichen, halb erwartungsvollen, halb niedergeschlagenen Ausdruck. Plötzlich zuckte sie zusammen.
Peter van Diemen trat aus dem Seitenportal.
Er sah sich suchend um, grüßte hier und da: dann fühlte sie plötzlich, daß er sie gefunden hatte. Seine Augen wurden einen Augenblick groß und weit, und durch den halbgeöffneten Mund schimmerte es wie das Lächeln eines Erkennens: er winkte einem Auto, das dort drüben am Rande des Bosketts stand und das sich dienstwillig in Bewegung setzte.
Das Fahrzeug der drei zog an und bog um das runde, inselförmige Trottoir. Karin, fast gegen ihren Willen, wandte sich und spähte durch das kleine Fensterchen.
Van Diemens Auto folgte ihnen.
2.
Eine sternenlose Mainacht lag über der Großstadt. Die Konturen der Häuser verschwammen in dem grauen Dämmer, das bleiern und mißmutig auf den dunklen Straßen lastete. Von irgendwo zitterten ein paar verwehte Töne herüber, fingen sich, spielten miteinander und zerflatterten in der schweren Vorfrühlingsluft.
Die Straßen wurden enger und belebter. Hier und da leuchteten Laternen durch den grauen Abend. Ein paar Transparente glühten auf, glitten vorüber und versanken wieder wie Meilensteine an endlosen Landstraßen.
„Du bist so einsilbig, Karin.“
Die Mutter nickte eifrig: „Du sprichst kein Wort. Was ist dir?“
Sie fuhr sich mit einer ungeduldigen Bewegung über die Stirn und schüttelte den Kopf: „Nichts. Was sollte mir wohl sein?“
„Fühlst du dich nicht wohl?“
„Der Abend hat mich ein bißchen angegriffen.“
Das Auto sauste um eine Kurve. Sie warf einen schnellen scheuen Blick durch das rechte Fenster — die unendliche Straße, die hinter ihnen lag, war still und leer. Zögernd atmete sie auf — dann, wie in einem seltsamen Zwiespalt, ging ihr ein nagender Stich durchs Herz.
Holger erhob sich.
„Was willst du?“
„Auf den Ball drücken. Er soll halten.“
„Warum?“
„Wir sind am Weinrestaurant ,Rokoko‘.“
Sie machte eine ungeduldige Bewegung.
„Ich mag nicht. Geh’ allein. Ich möchte heimfahren.“
Er zuckte mit den Schultern. „Wie du willst.“
„Laß dich nicht stören.“ In ihrer Stimme klang — sie bemerkte es mit unmutigem Staunen — wider ihren Willen eine leise Gereiztheit.
Er gab keine Antwort. Die Helle schwand allmählich. Hier und da noch ein einsames Paar, ein Dreheingang, der in dunst- und lärmerfüllte Räume blicken ließ, und dann wandte sich der Wagen zur Linken und schoß ratternd in eine Seitenstraße.
Wieder wandte sie den Kopf. Im nächsten Augenblick zuckte sie zusammen. Dort hinten, wo sich die drei Alleen kreuzten, tauchte ein Auto auf. Sie kannte es. Diese beiden Scheinwerfer mit ihrem mächtigen Lichtstrahlenbündel waren unverkennbar ...
Der Chauffeur stoppte. Die lange dunkle Häuserreihe lag schweigend wie im rechtschaffenen Schlaf gutbürgerlichen Frühzubettgehens. Kaum ein Licht flimmerte noch in den matten Fenstern, in denen dunkel und drohend die Schatten des kleinen Wäldchens irrten, das in fast fühlbarer Stelle gegenüber lag.
Holger lohnte den Chauffeur ab. Er nahm den Schlüssel, den Karins Mutter zog, und öffnete sorglich und galant die Gartentür. Er warf einen forschenden, fast ängstlichen Blick auf seine Braut, die mit schnellen Schritten dem Hause zuging. Dann sagte er, indem er ihr die Hand reichte: „Du bist verstimmt, Karin. Ich sehe morgen früh nach dir. Schlaf wohl.“
Sie nickte kurz und wandte sich mit einer halb schuldbewußten, halb unwilligen Gebärde zur Seite, als er sich ihr zögernd nähern wollte.
Einen Atemzug lang blieb er stehen und sah ihr nach. Ihre schlanke Gestalt mit dem seltsam elastischen, kaum hörbaren Gang verschmolz mit der grauen Front des dunklen Hauses. Ein klickendes Geräusch des Schlüssels — und durch die Tür, die sich nun öffnete, quoll es wie tiefe Finsternis hervor. Ein unbehagliches Gefühl legte sich schwer und beklemmend auf den Einsamen, der unwillkürlich die Augen schloß. Dann seufzte er, fast ohne zu wissen warum, wandte sich und ging zur Rechten die Straße hinunter.
In dem grauen Hause flammte schneidend ein Fenster auf. Er blickte verwirrt empor, und ein freundliches Lächeln ging über seine Züge. Er wußte: das war Karins Fenster. Einen Augenblick sah er ihre Silhouette. Dann näherte sie sich dem Fenster, und mit einem Rasseln ging die Jalousie nieder. Das Licht erstarb, und sein geblendeter Blick wanderte einen Moment hilflos durch die dunkle Nacht.
Von der andern Seite, dort, wo die dunkle Allee mündete, kam ein rhythmisches Knattern, das sich schnell näherte. Eine silberne Lichtflut schoß schwankend auf dem feuchten Asphalt voraus, glitt in einer zitternden Kurve spielerisch über die graue Front der Häuser und hielt dann mit einem scharfen Ruck plötzlich an.
Holger Werling ging langsam über die Straße dorthin, wo die undurchdringlichen Schlagschatten der Bäume lagen. Er konnte sich keine Rechenschaft darüber geben, aber er hatte das Gefühl — nein, er wußte, daß irgend etwas Feindliches in diesem Augenblick in sein Leben getreten war. Er starrte auf das schwärzliche Gefährt, dessen lärmendes Knattern wie ein fremder frecher Ton in diesem stillen Dunkel wirkte. Er lehnte sich an einen Baumstamm und beugte sich vor. Dann plötzlich stieß er einen leisen Ruf der grenzenlosen Bestürzung aus. — Aus dem Auto stieg Peter van Diemen. — — —
Karin hatte das Licht gelöscht und stand, durch die halbgeöffnete Jalousie spähend, am Fenster. Der Rhythmus des Viertaktmotors drang wie eine aufreizende Melodie zu ihren Ohren herauf.
„Wie unvorsichtig,“ so dachte sie einen Moment lang, „so fängt man es nicht an, wenn man heimliche Liebeswege geht.“ Sie mußte fast über sich selbst lächeln und über die nüchternen Erwägungen, die ihr durch den Kopf gingen. Dieser Mann war entweder ein Stümper oder aber — ein rücksichtsloser Freibeuter.
Van Diemen ging unhörbar, mit langsamen, zögernden Schritten die Straße hinunter und blickte mit halbgewandtem Gesicht an den Fenstern der Häuserreihe entlang. Im Schein der Laterne sah sie deutlich sein bleiches Gesicht und seine Augen, die nun groß und flackernd waren. Dieser Mann, der dort unten ging — der kannte sie nicht. Er wußte weder ihren Namen noch ihre Wohnung. Die Dinge lagen in ihrer Hand. Wenn dieses Zimmer dunkel blieb, hatte Peter van Diemen ihre Spur verloren. Noch in dieser Nacht sollte er weiterreisen. Und wenn sie morgen früh erwachen würde, dann wäre alles nur wie ein lächelnder Traum gewesen.
Er kehrte um. Wieder zitterte das blaue Licht über sein Gesicht. Und plötzlich kam es wie ein stockendes Mitleid über sie. Der Mann, der dort unten ging, war ein anderer als der, den man vor einer Stunde auf dem Podium umjubelt hatte. Jener war ein verwöhnter Liebling aller, ein von den Frauen Verhätschelter, von der Natur und vom Schicksal Begnadeter — der hier zu ihren Füßen schritt, war ein heimatloser Wanderer, der von Stadt zu Stadt irrte, wie einer, der etwas suchte und es nie fand. Sie furchte die Stirn. Hinter seinen lächelnden Triumphen ahnte sie die Tragik des Unsteten. Eine plötzliche Angst erfaßte sie. Dort, ganz in der Nähe seines Autos war er wieder angelangt; ein Zeichen von ihm, und im nächsten Moment würde er davonsausen in die weite, lockende, trügerische, unbegreifliche Welt. Das durfte nicht sein. Sie mußte ihn sprechen,