Sie drehte sich um. Er folgte ihr, aber ein Spalt öffnete sich im Eis zwischen ihnen. Um sie herum. Die Eisscholle, auf der er stand, begann sich zu bewegen. Drohte zu kippen. Er war zu schwer!
»Kolail!« Hirka riss sich los. Verlor das Messer. Stürzte vornüber aufs Eis. Es schaukelte unter ihr. Skerri schrie hinter ihr, packte sie am Fuß. »Er ist ein Gefallener!«
Hirka streifte den Stiefel ab. Zog sich weiter. Ein Gefallener … Hohle Worte. Sie tastete nach dem Messer, bekam es zu fassen. Rammte es ins Eis und klammerte sich daran.
Wo war Kolail? Alles, was sie sah, waren schaukelnde Eisschollen. Einige stießen zusammen und türmten sich wie Berge auf. Das Wasser um sie herum war schwarz und schnell.
Ein Stock ragte aus der Flut auf. Kolail! Er ertrank!
Hirka hielt sich mit einer Hand am Messer fest und griff mit der anderen nach dem Stock. Kolails Hand ragte aus dem Wasser. Sie packte sie. Sein Gewicht drohte sie in die Tiefe zu ziehen. Das Eisstück, auf dem sie lag, begann zu sinken. Eiskaltes Wasser umschloss ihren Körper.
Sie schrie. Spürte einen erneuten Griff um ihren Fuß. Sie wurde zurückgezogen. Ihr Unterkiefer schrammte übers Eis. Kolail hing an ihr fest. War sie es, die ihn hielt? Sie wusste es nicht. Ihre Hand war an seiner festgefroren. Sie spürte nichts mehr, nur dass jemand sie an den Füßen hinter sich herzog. Zwischen Feuer und Eis. Das brennende Zelt flatterte im Wind.
Kolail riss sich los. Kroch auf allen vieren weiter, wie ein halb ertrunkener Eisbär.
Hirka wurde auf die Füße gestellt. Sie starrte hinauf in Skerris Gesicht. Hinauf in rasende Wut. Die Augen waren jetzt ebenso schwarz wie die Lippen. Skerri schüttelte sie. Hirka fühlte nur die Bewegung. Es tat nicht weh. Alles war taub.
»Er ist ein Gefallener! Ein Mörder! Du bist eine Dreyri! Die Jüngste in Modrasmes Haus! Du bist von Graals Blut und du riskierst dein Leben für ihn?! Weißt du nicht, wie viel mehr du wert bist als ein Gefallener? Antworte mir! Verstehst du, wer du bist?«
Sie zeigte auf den Köcher, der ihr nach vorn auf die Brust gerutscht war. »Ich hätte das verlieren können! Geht das in deinen Kopf?!«
Hirka starrte auf den schäbigen Lederbehälter. In dem Moment begriff sie, was es war. Ein Rabenskelett. Natürlich. Genau so eins, wie Graal es hatte, und die einzige Möglichkeit, ihn zu erreichen.
Die Kälte war nicht mehr so schlimm. Es war beinahe mild. Aber Hirka wusste, was das bedeutete. Es war kein gutes Zeichen.
Sie blickte sich um. Ein Chaos aus zerbrochenem Eis. Sie war ein Insekt, verloren in einer Salzschüssel. Hungl, Tyla, Grid … alle waren am Leben. Alle.
Kolail erhob sich schwankend. Er hatte sich die Arme um den Körper geschlungen wie einen Knoten. Er fiel wieder vornüber auf die Knie.
Hirka taumelte auf das brennende Zelt zu. Wärme …
Vor den Flammen sank sie zu Boden. Wenn sie gekonnt hätte, wäre sie ins Feuer hineingegangen. Hätte sich verbrennen lassen. Ǫni begann, sie auszuziehen. Hirka hätte sich am liebsten dagegen gewehrt, aber sie wusste, dass es notwendig war. In nasser Kleidung würde sie sterben, schneller, als sie einmal blinzeln konnte. Sie hörte, wie ihre Zähne aufeinanderschlugen. Ǫni zog ihr trockene Kleidung über, ohne dass Hirka ihre Arme spürte. Dann wurde sie in eine Decke gehüllt. Sie lag mit dem Rücken zum Feuer. Vor ihr stand Skerri und schrie Kolail an. Ihre schwarzen Lippen öffneten und schlossen sich, so langsam wie in einem Traum.
»Iss ghené woykhail!«
Die Zöpfe fegten über ihren Rücken, während sie ihre Fäuste schüttelte. Blieb die Zeit stehen, wenn man dabei war, zu erfrieren? Hirkas Blick fiel auf den Holzstock. Sie hatten recht gehabt. Er half, dass man gefunden wurde. Nicht nur unter einer Schneelawine. Sie zog ihn zu sich heran, klemmte ihn sich in die Achselhöhle. Falls sie überlebte, würde sie ihn nie wieder loslassen.
Kolail sah nicht so aus, als beachtete er Skerris Wutanfall. Er starrte Hirka an. Das graue Haar war zu Eis gefroren. Seine Haut war blau. Er verzog die Lippen zu einem hilflosen Grinsen. Eine Art Lächeln, begriff sie.
»Was habe ich gesagt?«, stieß er heiser aus. »Karnickel sterben.«
Balanceakt
Garm Darkdaggar blickte auf den Weg hinunter, der zum Haus führte. Er schlängelte sich im Licht von fast hundert Fackeln, die gegen den Wind kämpften. Die Wagen näherten sich in stabilem Rhythmus. Hufeisen klapperten auf Steinplatten. Türen wurden geöffnet und Gäste stiegen aus. Ratsleute. Adelige, Kaufleute, Bürokraten. Freunde. Und der eine oder andere Feind, wenn man realistisch sein wollte, und das war er in höchstem Maße.
Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wen er kommen sah. Mochte es laufen, wie es wollte. Am wichtigsten war, wer nicht kam.
Im Stockwerk unter ihm nahmen Gelächter und Stimmengewirr zu. Er leerte das Weinglas und stellte es auf dem Schreibtisch ab. Strich mit den Händen über das glänzende Holz. Der Tisch hatte an dem Tag, als Rime in den Raum gestürzt kam, seinen Charakter geändert. Er war immer so etwas wie ein Anker gewesen, eine Sicherheit. Jetzt war er nur noch ein Hohn. Ein Möbelstück, an das er sich geklammert hatte. Entsetzt wie ein Schwein, das geschlachtet werden sollte.
Er hatte geglaubt, er sei zu alt für so etwas. Zu … praktisch veranlagt. Er war ein Mann der Lösungen. Nicht der geballten Fäuste. Nicht der Furcht. Das hatte er hinter sich gelassen. Aber es war etwas ganz Eigenes, vor einem Schwarzrock zu stehen. Einem jungen, wutentbrannten Mann. Stahl auf der Haut zu spüren.
Das war so weit weg von allem anderen, was er erlebt hatte. So ungehemmt. Wildheit und Wahnsinn. Und die ganze Zeit kam dieser Gedanke hoch, dass man sich so doch nun wirklich nicht benehmen konnte.
Aber das hatte er getan, Rime An-Elderin.
Darkdaggar hob den Blick. Das Licht der Fackeln schimmerte auf den Rahmen an der Wand. Die Karten. Länder, Städte und Gebiete. Von Ländereien verstand er etwas. Es gab nichts Schöneres als Landkarten. Sie zeigten die Welt genau so, wie sie war. Wie sie immer gewesen war. Alles an seinem Platz. Länder, geschaffen von Gesetzen. Wenn es etwas gab, worin er sich auskannte, dann waren es Gesetze. Was also sollte man machen, wenn junge Männer so taten, als gäbe es sie nicht? Wenn sie sich in jugendlichem Übermut selbst Recht verschafften? Was sollte man tun, wenn sie kamen? Wenn das, was es schon immer gegeben hatte, nicht gut genug für sie war?
Darkdaggar hatte getan, was er musste. Er hatte das Duell akzeptiert. Und er hatte es in der Gewissheit getan, dass er sterben würde. Rime An-Elderin hatte viele Fehler, aber kämpfen konnte er. Dass Schwarzfeuer sich entschieden hatte, an seiner Stelle zu kämpfen, bedeutete nichts weniger, als ihm das Leben zu schenken. Eine Rettungsleine. Aber nicht einmal Schwarzfeuer hatte es geschafft, den Jungen zu besiegen, den er selbst ausgebildet hatte. Wäre Rime danach nicht spurlos verschwunden, würde er heute nicht hier stehen.
Er war so kurz davor gewesen, alles zu verlieren. Den Sitz im Rat. Das Zuhause. Die Familie. Die Freiheit. So zerbrechlich war die Wirklichkeit, dass ein Atemzug genügte, um sie einstürzen zu lassen. Wer hätte das gedacht …?
Er ging zu einer der Karten von Mannfalla und versuchte, sie gerade zu rücken. Es nützte nichts. Der Rahmen war das Problem, er war ein wenig schief. Er musste einen neuen anfertigen lassen. Besser, er brachte in Ordnung, was er in Ordnung bringen konnte. Weiß der Seher, es gab genug Dinge, die nicht in seiner Macht standen.
Er hatte es geschafft, den Stuhl im Rat zu behalten, aber es waren äußerst unruhige Zeiten. Nichts war sicher. Nichts hatte seinen Platz gefunden. Gab es etwas Schlimmeres?
Er brauchte diesen Abend. Er hatte Freunde zu gewinnen. Musste seine eigene Position festigen und die Vorstellung von Rimes Wahnsinn. Ob ihm das gelingen würde oder nicht, blieb abzuwarten.
Die