Die Rabenringe - Gabe (Band 3). Siri Pettersen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Siri Pettersen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783038801153
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wir jetzt sorgen. Ich werde dir eine Frage stellen, und das Einzige, was du antworten sollst, ist ›die Raben‹. Das kannst sogar du. Verstehst du, was ich sage?«

      Hirka verstand nicht, nickte aber trotzdem.

      Skerri stand auf und bedeutete ihr, mitzukommen. Hirka kroch aus dem Zelt. Sie dachte kurz daran, umzukehren und ihren Umhang zu holen, traute sich aber nicht. Sie folgte Skerri zum Lagerfeuer. Hungl und Tyla hatten sich Schneehaufen gebaut, auf denen sie saßen und zusahen, wie das Feuer wuchs. Ǫni kam angelaufen und setzte sich ebenfalls. Grid blieb stehen, natürlich. Es war wohl peinlich für die Dreyri, sich hinzusetzen.

      Der Gefallene saß ein wenig abseits und klaubte Eisstücke aus dem Schaffell.

      Skerri zeigte auf Hirka, während sie sich auf Umǫni an die anderen wandte. Hirka war ein bisschen schlecht. Sie wusste nicht, was passieren würde, nur, dass sie eine Rolle zu spielen hatte. Wenn sie nur wüsste, welche …

      Als Skerri geendet hatte, wandte sie sich an Hirka.

      »Keskolail hat einen Pfeil in deine Richtung geschossen. Wie lautet dein Urteil, Hirka, Tochter des Graal, Sohn von Raun aus Modrasmes Haus?«

      Hirka runzelte die Stirn. Urteil? Wurde sie aufgefordert, ihn zu bestrafen? Den Mann mit dem Tropfen? Sie nahm es an. Doch wohl nicht, weil er einen Mann getötet hatte, das hatte er ja auf Skerris Befehl hin getan? Vielleicht wurde ihm vorgeworfen, dass er einen Pfeil in Hirkas Richtung geschossen hatte. Als wäre sie je in Gefahr gewesen. Ein Mann, der ein Ziel in solchem Abstand treffen konnte, und das bei dem Wetter … Er hätte nicht danebengeschossen.

      Also warum?

      Skerri hatte ihr aufgetragen, »die Raben« zu antworten. Was hatten Raben damit zu tun?

      Plötzlich begriff sie. Die Erkenntnis traf sie wie ein Faustschlag in den Magen.

       Man verfüttert die Toten an die Raben.

      Die Ratsfamilien in Ymsland ließen die Toten von den Raben fressen. War das ein weiterer Brauch, den Naiell von hier mitgebracht hatte? Das bedeutete, dass sie jetzt aufgefordert wurde, einen Mann zum Tode zu verurteilen. Dazu, Rabenfutter zu werden. Weil er einen Befehl ausgeführt hatte?

      Die Stille hing wach und fordernd um das Feuer. Die Flammen streckten sich im Wind, als wollten sie nach ihr greifen.

      Hirka war es kalt bis ins Mark. Sie hatte gehört, was sie sagen sollte, doch die Worte wollten ihr nicht über die Lippen. Sie starrte den Mann an, den sie verurteilen sollte, aber er erwiderte ihren Blick nicht. Auch nicht die Blicke der anderen. Er wusste, was vor sich ging, trotzdem saß er da und säuberte das Schaffell, als ginge ihn das nichts an. Stahlhaar. Stahlblick. War er durch und durch aus Stahl?

      Hirka musste etwas sagen. Alle sahen sie an. Warteten auf sie. Sie begriff nicht, warum, aber Skerri war offenbar auf ihre Bestätigung angewiesen, um das zu bekommen, was sie wollte. Hirka räusperte sich.

      »Mir wurde gesagt, dass Umpiri keine Umpiri töten.«

      Hungl war gerade dabei, einen Schluck aus einem Wasserbeutel zu trinken, prustete aber das meiste wieder aus. Tyla sah ihn scharf an und er riss sich zusammen. Ǫni sah aus, als würde sie ihre eigene Unterlippe essen.

      Skerri krümmte den Nacken wie ein wütender Stier. Hirka sah, wie ihre Zöpfe zitterten.

      »Du bist neu hier und kennst die Gebräuche nicht«, sagte sie mit erzwungener Beherrschung. »Dafür müssen wir Verständnis haben. Er ist kein Umpiri. Er ist Kwessar. Einer der Gefallenen. Aber da niemand hier ein Urteil vollstrecken kann, werden wir deine Entscheidung aufschieben, bis wir in Ginnungad sind. Denk bis dahin darüber nach.«

      Skerri ging an ihr vorbei und verschwand in ihrem Zelt. Grid schien für einen Moment verwirrt. Dann nickte er Hirka zu und folgte Skerri.

      Hirka blieb am Feuer stehen, unsicher, was sie tun sollte. Ihr Blick fiel auf Klauen, die sich über Knien krümmten. Auf spitze Eckzähne. Sie war umgeben von Fremden. Und die hatten erwartet, dass sie ein Todesurteil sprach. Die Kleidung dieser Leute wirkte auf einmal fehl am Platz. Wie ein Deckmantel.

      Hirka hörte das Zittern in ihrem eigenen Atem. Sie schlug die Hände zusammen in dem vergeblichen Versuch, die ganze Sache abzuschütteln. »So, was muss man tun, um hier etwas Essbares zu bekommen?«

      Hungl grinste in sich hinein. Ǫni stand auf. »Ich hole die Kekse.«

      Hirka sah Keskolail an.

       Kolail. Er heißt Kolail.

      Hirka wusste, dass sie ihn nie anders nennen würde als Kolail, jetzt, da sie erfahren hatte, dass das sein richtiger Name war.

      Er hob den Blick. Sah sie zum ersten Mal an. Sein Gesicht war ausdruckslos. Dann schlug er die Augen nieder und fuhr fort, Eis aus seinem Schaffell zu brechen.

      Kolail

      Das Schneetreiben hatte aufgehört. Hatte Platz gemacht für einen kalten Nebel, der Mutlosigkeit hervorrief. Aber Hirka hatte Vorkehrungen getroffen. Nach einer eisigen Nacht mit wenig Schlaf war sie aufgestanden und hatte ihr Überlebensprojekt in Angriff genommen. Strümpfe. Die dicken Wollsocken. Die Hose über den Stiefeln verschnürt, damit sie nicht stecken blieb.

      Sie hatte Streifen aus der Wolldecke geschnitten und sich um Hände und Finger gewickelt. Sie hatte auch Schnee im Wasserbeutel geschmolzen, aber der war längst leer. Die paar letzten Tropfen darin waren zu Eis gefroren. Der Gedanke daran machte sie noch durstiger. Und das Zelt, das sie oben auf dem Beutel trug, machte sie schwerer als am Tag zuvor.

      Aber sie stapfte weiter, sich bewusst, dass Tyla und Kolail direkt hinter ihr gingen. Sie blinzelte nach vorn zu den anderen. Schatten im Nebel, die den Weg vor ihr bahnten. Nichts deutete darauf hin, dass sie vorhatten, jemals anzuhalten. Vor allem nicht Skerri und Grid. Immer weiter voran. Immer an der Spitze.

      Aber Hirka war als Erste aufgewacht. Das hatte ihr reichlich Zeit verschafft und das Gefühl, endlich einen Vorsprung zu haben. Der war kaum der Rede wert, aber im Moment stellte sie keine großen Ansprüche.

      Naiell hatte auch viel geschlafen, erinnerte sie sich. Beinahe überall, wo es sich machen ließ. Im Gewächshaus in York. In Stefans Auto. Im Flugzeug. Hirka lächelte, bis ihr einfiel, wie zum Draumheim alles gelaufen war. Dass sie sein Herz in einem Kästchen auf dem Rücken trug.

      Hungl und Tyla hatten beide in dem Zelt geschlafen, das direkt neben ihrem stand. Ob sie so verhindern wollten, dass sie sich davonmachte oder dass jemand ihr etwas antat? Hirka wusste es nicht. Beides sorgte nicht dafür, dass sie sich sicherer fühlte.

      Sie hatte Skerri am Abend zuvor getrotzt. Hatte irgendeinen morbiden Plan durchkreuzt, den sie nicht durchschaute. Vermutlich würde die Totgeborene ihr den Hals umdrehen, sobald sich die Gelegenheit dazu bot.

      Hirka hatte das beklemmende Gefühl, dass ihr Leben auf einer Messerschneide balancierte, die sie nicht einmal sehen konnte. War sie gut genug oder nicht gut genug? Für was? Und nach wessen Meinung?

      Sie befürchtete, dass sie es schneller herausfinden würde, als ihr lieb war.

      Wenigstens hatte sie erfahren, dass es hier Seher gab. Umpiri, die sich auf Blindwerk verstanden. Einige von ihnen wussten sicherlich, wie sie die Gabe zurückbekommen konnten. Naiell hatte sie zerstört, unterstützt von den Toten, und in einem Moment geistiger Umnachtung hatte sie Graal versprochen, das wieder in Ordnung zu bringen. Im Tausch gegen Frieden. Hatte sie eigentlich selbst geglaubt, was sie gesagt hatte? Das war Wahnsinn. Die Gabe heilen …

       Rime heilen.

      Hirka krümmte den Nacken und marschierte weiter. Sie lief direkt in Hungl hinein, der stehen geblieben war. Er drehte sich zu ihr um, mit Reif in seinem Ziegenbart.

      »Der Pfad … Er ist weg«, sagte er hilflos in einer Mischung