Die Rabenringe - Gabe (Band 3). Siri Pettersen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Siri Pettersen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783038801153
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Pfads verloren, aber jetzt waren sie laut Skerri nur noch einen Tagesmarsch von Ginnungad entfernt.

      Hirka schwankte zwischen Erleichterung und Panik. Erleichterung, weil sie bis ins Mark fror und sich nach einem warmen Bett sehnte. Panik, weil nichts darauf hindeutete, dass sie sich darauf freuen sollte, jemanden in dieser Stadt zu treffen. Nicht einmal ihre eigene Familie.

      Das Gespräch mit Kolail hatte ihr das Gefühl gegeben, wie Naiell zu sein. Eine falsche Seherin. Was glaubten diese Leute, welche Hoffnung sie mitbrachte? Welche Hoffnung glaubte sie selbst im Gepäck zu haben?

      Sie krümmte den Nacken gegen den Wind. Sah hinunter aufs Eis. Sie waren lange auf einem zugefrorenen Fluss gegangen. Er wand sich wie eine Schlange auf dem Grund einer Klamm. Am Anfang war es unheimlich gewesen, aber inzwischen war sie daran gewöhnt, in die dunkelblaue Tiefe hinunterzublicken. Unter ihr verliefen Risse in alle Richtungen. Gefrorene Blasen erinnerten an Wolken. Einige lagen dicht unter der Oberfläche, andere tief unten im Eis. Es war, als ginge man über den Himmel.

      Senkrechte Felswände ragten zu beiden Seiten des Flusses auf. Es gab keine andere Möglichkeit, als vorwärtszugehen. Aber es wirkte sicherer als alles andere, was sie gesehen hatte: undurchdringliche Landschaften. Kalt und wüst. Mittlerweile hatte sie erkannt, warum es sinnvoll war, immer einen Stock dabeizuhaben.

      Ǫni ging langsamer, damit Hirka wieder zu ihr aufschließen konnte. Die Gelehrte ließ sie selten lange in Ruhe. Sie wurde mit jedem Tag angespannter. Und fordernder. Drängte Hirka, auswendig zu lernen. Zu wiederholen. Ihre Unruhe war ansteckend. Hirka nahm an, dass sie unter starkem Druck von Skerri stand.

       Und von denen, die in Ginnungad warten.

      »Du hast den Unterschied verstanden, ja? Bei den Wörtern für ›ich‹? Du sagst ›ozá‹ bei allen, die einen niedrigeren Rang haben. Bei mir zum Beispiel. Aber ›óz‹, wenn du selbst den niedrigsten Rang hast.«

      Hirka lachte wiehernd. »Ich denke, dann bleibe ich bei ›óz‹ …«

      Ǫni riss die Augen auf. »Nein, nein! Im Gegenteil. Hast du nicht zugehört? Du bist Hirka, Tochter des Graal, Sohn von Raun aus …«

      »Modrasmes Haus, ich weiß.«

      Die Sprache war komplex, aber sie schlug eine Saite in ihr an. Die Laute kamen ihr ganz natürlich über die Lippen und sie konnte viele Wörter erraten. Es war, als hätten sie seit ihrer Geburt in ihr geschlafen.

      Hirka hob den Blick zum Himmel. Er wurde langsam dunkel. Bald würde das Nordlicht kommen, grün geflammt und ungestüm. Ein Stück voraus knackte das Eis dumpf. Keiner der anderen schien darüber beunruhigt zu sein.

      »Ǫni, warum haben wir uns nicht mit Seilen aneinandergebunden?«

      »Warum sollten wir?«

      Hirka stampfte mit dem Fuß aufs Eis, um zu zeigen, was sie meinte. Es kam ihr idiotisch vor, etwas so Einfaches erklären zu müssen. »Für den Fall, dass etwas passiert, verstehst du? Wir sind ja sieben Leute. Wenn du einbrechen würdest, könnten wir anderen dich wieder heraufziehen.«

      Die Grübchen erschienen auf Ǫnis Wangen, aber sie lächelte nicht. Hirka hatte bemerkt, dass sie sich auch zeigten, wenn Ǫni ärgerlich war.

      »Seile würden Furcht bedeuten, dass etwas passieren könnte. Seile würden bedeuten, dass du nicht glaubst, es allein zu schaffen. Dass du die anderen brauchst.«

      Hirka antwortete nicht. Es gab vieles, was die Umpiri nicht brauchten, hatte sie gelernt. Waffen zum Beispiel. Der Einzige, der offen Waffen trug, war Kolail. Sie hatte den Verdacht, dass auch Hungl und Tyla Messer besaßen, aber gesehen hatte sie keine. Auch kein Werkzeug. Würden die Umpiri essen wie andere Leute, hätten sie wohl auch keine Löffel benutzt. Löffel wären ein Zeichen dafür gewesen, dass sie nicht in der Lage waren, eigenhändig zu essen.

      »Und was ist hiermit?« Sie hob den Stock an. »Zeigt er nicht, dass ich Angst habe, unter dem Schnee begraben zu werden?«

      Ǫni zögerte, aber nur kurz. »Das ist etwas anderes. Er zeigt, dass du weißt, es könnte eine Lawine kommen, doch du gehst trotzdem dort.«

      Hirka schüttelte resigniert den Kopf. Ǫni war fast vierhundert Jahre alt. Es war nicht zu fassen. Wurde man so, wenn man eine halbe Ewigkeit lang lebte? Außerstande, etwas zu fürchten? Jemanden zu brauchen?

      Ǫni machte eine Handbewegung, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Eine Geste, die in Ymsland ein Knuff in die Seite wäre. »Schau …«

      Sie näherten sich einem gefrorenen Wasserfall. Er stürzte eine Felswand hinunter wie eine Lawine aus blauen Kristallen. Skerri und Grid standen dort und wechselten einige Worte. Setzten die Rucksäcke ab. Hier würden sie ihr Nachtlager aufschlagen. Unter sich das Eis und über sich den Wasserfall.

      Hirka fluchte innerlich. Sie wünschte, sie hätte nie ein Wort über Lagerplätze gesagt. Sie setzte ihren Beutel ab und löste das zusammengerollte Zelt. Fand eine gerade noch annehmbare Stelle auf der schmalen Schneezunge am Fuß der Felswand und rollte es aus. Das Zelt war ihr einziger Zufluchtsort. Ein Tuch zwischen ihr und den anderen, das war alles. Aber genug, um sie selbst sein zu können. Sich gehen zu lassen, ohne Angst zu haben, ihre Gefühle zu zeigen. Sie konnte es gar nicht schnell genug aufbauen.

      Die anderen stellten ihre Zelte dicht neben ihres. Hungl und Kolail hatten Kleinholz dabei, von einem Lawinengebiet weiter oben. Genug, um ein kleines Feuer zu entfachen. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie geglaubt, es sei ihretwegen. Aber wahrscheinlich wollten sie nur etwas Heißes trinken.

      Hirka betrachtete ihr Zelt. Am liebsten wäre sie sofort hineingekrochen, aber der Hunger siegte.

      Sie zog ihr Messer und ging ein Stück aufs Eis hinaus, kniete sich hin und begann zu hacken. Hungl und Tyla warfen ihr vom Flussufer aus verstohlene Blicke zu. Sie hatten sich am Feuer niedergelassen. Hirka kehrte ihnen den Rücken zu und hackte weiter.

      »Was machst du da?«, hörte sie Kolails Stimme hinter sich.

      »Ich will fischen«, antwortete sie, ohne sich umzudrehen.

      »Dir ist aber schon klar, dass es wieder hell sein wird, bevor du fertig bist?«

      Sie schaufelte eine Handvoll zerstoßenes Eis aus der Vertiefung. Hackte weiter. Sie spürte, dass er immer noch dicht hinter ihr stand. Dann kniete er sich hin, zog ein Messer, das wesentlich größer war als ihres, und begann zu hacken. Hirka verbarg ein Lächeln.

      Abrupt hielt er in der Bewegung inne. Drehte den Kopf, als ob er lauschte. Dann sprang er auf. Hirka drehte sich um. Sie hatte auch etwas gehört. Ein Rumpeln.

      Sie stand auf. Oben an der Felskante, wo der Wasserfall seinen Ursprung hatte, bewegte sich etwas. Tiere? Eine Masse aus Steinen und Eis brach ab. Teilte sich im Fallen in kleinere Stücke. Raste auf die Zelte zu.

      Hirka schrie. Spürte, wie ihre Lippe aufplatzte. Sie wollte zu den Zelten rennen, wurde aber zurückgehalten. Kolail zog sie an sich und hielt sie mit eisernem Griff fest. Er brüllte zu den anderen hinüber, dass ihr fast die Ohren abfielen. Worte, die sie nicht verstand.

      Sie versuchte, sich loszureißen. »Sie werden sterben! Sie werden sterben!« Hirka hörte Skerri rufen. Das Echo tanzte zwischen den Felswänden.

      Die anderen kamen auf sie zugelaufen. Die enorme Masse donnerte zu Boden. Explodierte in einer Fontäne aus Schnee und Eis. Eine unfassbare Kraft. Hirka stand wie gelähmt da und sah zwei der Zelte verschwinden. Das Feuer wurde in alle Richtungen geschleudert.

      Dann brach das Eis. Ein unheimliches Krachen, das sich den Fluss entlang fortpflanzte. Hirkas Knie drohten zu versagen.

      »Lauf!« Kolail stieß sie vorwärts. Sie lief auf das Flussufer zu. Auf ein Zelt zu, das lichterloh brannte. Auf Hungl und Tyla zu.

      Skerri rannte ihr entgegen. Ihre schwarzen Zöpfe wehten. Sie streckte sich nach Hirka aus und packte sie. Ihre Klauen bohrten sich in den Unterarm. Hirka wurde gezogen. Stolperte vorwärts. Hörte das Knacken unter ihren Füßen.