Die Rabenringe - Gabe (Band 3). Siri Pettersen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Siri Pettersen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783038801153
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Frage schien sie zu überraschen. Er nutzte die Gelegenheit und fuhr fort: »Bis sie dich auffordern, das Gesetz zu brechen? Nein, die Gesetze machen sie ja selbst … Bis sie auf Unschuldige losgehen? Nein, es steht uns nicht zu, über Schuld zu entscheiden, das ist ihre Aufgabe … Bis sie dir befehlen, dich in dein eigenes Schwert zu stürzen? Wieso, dafür bist du doch da. Wenn der Rat es wünscht, ist es genau das, was du zu tun hast.«

      Rime hörte selbst den Zorn in seinen Worten, aber es musste raus. »Wenn du sagst, dass wir abwarten sollen, dann bedeutet das überhaupt nichts. Du hast dein Herz längst in die Hände des Rates gelegt. Du hast auf die Freiheit, deine eigene Meinung zu haben, verzichtet. Das ist dein gutes Recht, aber komm nicht mit falschen Gründen dafür an. Komm nicht an und behaupte, es sei dein moralischer Standpunkt, der dem zugrunde liegt, denn Moral hast du längst anderen überlassen.«

      Sie ging zur Tür. »Wenn das so wäre, Rime, dann wäre der Rabe längst unterwegs mit der Nachricht, dass du zurück bist. Vorläufig werde ich respektieren, dass du nicht gefunden werden willst.«

      »Was also werdet ihr tun, wenn euch der Rat befiehlt, Ravnhov anzugreifen, für einen Mordversuch, hinter dem Darkdaggar gesteckt hat? Ravnhov ist der einzige aufrechte Verbündete in einem Kampf gegen die Totgeborenen.«

      Sie ließ ihn stehen und ging, aber von draußen war ihre Antwort zu hören.

      »Wir warten ab.«

      Ein Gefallener

      Hirka wusste, dass es Skerri war, die hereinkam, schon wegen des Geräusches am Zelteingang. Merkte es an der schroffen Art, wie sie das Fell zurückschlug.

      Skerri blieb vor ihr stehen. Hirka hob den Blick nicht, sie begnügte sich damit, auf Skerris Stiefel zu starren. Schwarzes Leder, kreuzweise geschnürt bis hinauf zu den Knien. Nackte Schenkel, bleich und stark. Jeder Muskel wie in Stein gemeißelt. So beeindruckend. So fremd. So furchteinflößend.

      »Wir müssen weiter«, sagte sie.

      Hirka horchte in sich hinein. Ihr Körper war wieder warm geworden, dank der Steine, die Ǫni von der Feuerstelle geholt und um sie herumgepackt hatte.

      Sie setzte sich auf, steif und widerwillig. Skerri ließ ein Bündel vor ihr fallen. Die Kleidung, die sie angehabt hatte. Die Sachen waren jetzt trocken. Sie öffnete den Mund, um zu fragen, wie es Kolail ging, hielt sich aber im letzten Moment zurück. Es war besser, sie nicht unnötig zu reizen. Ǫni hatte schon gesagt, dass es ihm gut ging. Dass alle mit dem Leben davongekommen waren.

      »Grid hat Spuren gefunden«, sagte Skerri. »Sie sind mit ziemlicher Sicherheit aus der Stadt gekommen.«

      »Spuren von wem?« Hirka ließ die Decke von den Schultern gleiten und zog ihr Strickhemd an.

      »Was glaubst du?«, schnauzte Skerri. Dann stieß sie einen langen Seufzer aus. Hirka begriff, dass die Frau tatsächlich versuchte, sich zu zügeln.

      »Hör zu, Hirka«, sagte sie und ging vor ihr in die Hocke. »Du musst wissen, dass dies nicht unsere Art ist. Wir sind Umpiri. Wir verstecken uns nicht. Wir greifen nicht aus dem Hinterhalt an. Das haben die Niedrigsten der Niedrigen getan. Eine verwerfliche und erbärmliche Tat! Von Leuten, die nicht einmal wagen, ihr Gesicht zu zeigen.«

      Hirka erstarrte in der Bewegung, einen Ärmel halb übergestreift. »Das haben Leute mit Absicht getan?«

      Der weiße Blick wurde schmal. »Gefallene. Oder Hauslose. Das kann ich dir versichern.«

      »Warum?«

      »Weil keine anderen so etwas getan hätten!«

      »Nein, ich meine, warum sind wir angegriffen worden?«

      Skerri sah weg. Die Perlen in ihren Zöpfen schlugen gegeneinander wie Hagel. Skerri hatte ihr eigenes Wetter. Sie trommelte mit den Klauen auf ihre Knie. Nach einer Weile hatte sie die Worte gefunden, die sie suchte.

      »Du musst wissen, dass Dreysíl nicht mehr das ist, was es war. Früher hielt uns die Gabe zusammen. Du hättest Ginnungad in seiner Blütezeit sehen sollen. Nach dem Krieg haben sich die Dinge geändert. Wir haben jetzt mehr Gefallene. Mehr von den Niedrigen. Und was früher nicht schwierig war, ist nun …«

      »Schwierig?«

      Skerri sah sie wieder an. »Alle pflegten zu wissen, welchen Platz sie hatten. Die Vorstellung, die du draußen auf dem Fluss gegeben hast, macht die Sache nur schlimmer.«

      Bei den Worten spürte Hirka ein Frösteln im Nacken, als hätte man ihr das Fell gegen den Strich gebürstet. Sie zog mühsam ihre Hose an. Ihre Knie waren steif. Wollten sich einfach nicht gerade strecken.

      Sie wusste mehr darüber, seinen Platz zu kennen, als die meisten anderen. Sie war ein Odinskind gewesen. Die Fäulnis. Ein Mensk. Die Niedrigste der Niedrigen zu sein war ihr Leben gewesen. Kolail hätte genauso gut sie sein können. Ertrinkend. Sterbend. Nicht wert, dass man eine Hand danach ausstreckte. Zorn schwelte in ihrer Brust, aber sie wusste, dass sie ihn ersticken musste.

      »Wie wird man ein Gefallener?«

      »Man tötet«, erwiderte Skerri. »Man vergießt das Blut seiner eigenen Leute. Verstehst du?«

      Hirka sah sie an. »Ich verstehe. Man wird zu der Waffe, die ein anderer zum Töten benutzt.«

      Skerris Blick wurde unsicher. Dann ging ihr der Sinn der Worte auf und ihr Blick wurde schwarz. Sie erhob sich. »Du wirst nie eine von uns werden! Du bist aus Modrasmes Haus und sprichst immer noch wie ein Tier! Du lässt dich zu den Gefallenen herab, ohne zu …«

      Hirka stand auf. Fauchte die Totgeborene an: »Ozá kwo kwessere dósem!«

       Ich bin auch eine Gefallene.

      Die Worte kamen aus ihrem Inneren. Worte, von denen sie nicht geahnt hatte, dass sie sie kannte, aber sie fühlte die Wahrheit darin. Sie wusste, dass sie dafür würde büßen müssen, aber sie hatten sich nicht aufhalten lassen. Und was noch schlimmer war, sie hatte die überlegene Form des Wortes »ich« benutzt. So als hätte sie zu jemandem von niedrigerem Rang gesprochen.

      Skerri blickte auf sie herab. Sie war einen guten Kopf größer. Etwas in ihrem Gesicht änderte sich. Darin stand nicht mehr nur Wut allein. Hirka hätte schwören können, dass sie auch eine Spur von Unsicherheit sah. Was würde eine Frau wie Skerri tun, wenn sie Angst bekam?

      Hirka wollte es lieber nicht herausfinden. Sie wechselte das Thema.

      »Ich habe den Seher fallen sehen, Skerri. Ich weiß, dass es hart ist, wenn man Veränderungen ins Auge blicken muss. Dinge passieren. Unvorhersehbare Dinge. Die Leute sind, wie sie sind, ganz gleich, woher sie kommen, und Furcht gibt es überall. Auch bei den Umpiri. Wenn nicht, wären wir dann heute angegriffen worden?«

      »Wir wurden angegriffen, weil Kolail uns verraten hat«, antwortete Skerri. Etwas von ihrer Angespanntheit war verschwunden, zu Hirkas Erleichterung.

      »Das bezweifle ich«, erwiderte sie.

      »Du glaubst, du kennst uns? Du glaubst, du verstehst die Umpiri? Er ist der einzige Gefallene hier.«

      Hirka zitterte und das lag nicht nur an der Kälte. Sie riss sich zusammen. Hielt eine Fassade aufrecht, die sehr zerbrechlich war, wie sie merkte. »Wer weiß alles, dass ich komme?«

      »Unser Haus und unsere engsten Freunde in den obersten Häusern. Sonst niemand.«

      »Sonst niemand?« Hirka lachte kurz. »Ein Geheimnis, von dem mehr als drei Leute wissen, ist kein Geheimnis.«

      Sie fürchtete, sie wieder beleidigt zu haben, aber Skerri hatte den Blick gehoben und starrte in die Luft. »Du hast recht. Eine konkurrierende Familie. Leute, die nicht wollen, dass wir wieder zu alter Größe aufsteigen.«

      Einen Augenblick