»Ach, du Scheiße! Jetzt?«, ruft Stephie, was Britas Mutter dazu bringt, sich mit überrascht geweiteten Augen zu ihr umzudrehen. Stephie zieht sofort ihre Maske herunter und haucht ein »Sorry« in ihre Richtung, dann zieht sie den Gesichtsschutz wieder hoch und geht weiter den Bürgersteig hinunter, wobei sie auf die schmierige Asche aufpasst, die jeden Zentimeter bedeckt. »Bist du dir sicher, dass er nach unseren Freunden sucht?«
»Ganz sicher«, erwidert Mikellson. »Er hat mir ein Bild von Kyle als Kind gezeigt und mir Terrie ganz genau beschrieben.«
»Scheiße«, sagt Stephie wieder. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
»Sollen Shane und ich vielleicht zurückkommen?«, fragt Mikellson. »Denkst du, dass du Verstärkung brauchst?«
»Nein, ich werde damit schon fertig«, entgegnet Stephie. »Ich möchte lieber, dass du Terrie und Kyle findest. Sie hätten inzwischen schon längst hier sein sollen, sind aber noch nicht aufgetaucht. Macht's dir was aus, kurz zum Haus rauszufahren und zu gucken, ob sie noch da sind? Wir müssen uns nämlich beeilen, denn sonst verpassen wir das Treffen mit dem staatlichen Konvoi in Coeur d'Alene. Lu hat uns schließlich einen riesigen Gefallen getan, indem sie uns dort einen Platz organisiert hat. Ich fände es furchtbar, wenn ausgerechnet ihre Mutter alles verpatzt.«
»Und was ist mit dem Agenten?«
»Wie heißt er denn?«
»Linder«, antwortet Mikellson. »Inzwischen müsste er schon fast bei dir im Ort sein.«
Linder. Mist.
Stephie dreht sich um und schaut durch den Aschenebel die Straße hinunter. Sie sieht ein schwarzes Auto um die Kurve kommen, hinter der die Berge von Montana vor lauter fallender Asche kaum noch zu erkennen sind.
»Hab ihn gesichtet«, meint Stephie. »Sieh zu, dass du Terrie und Kyle findest. Lass mich sofort wissen, wenn du sie hast. Aber ab jetzt keine Namen mehr über Funk, verstanden?«
»Alles klar«, sagt Mikellson. »Oh, und noch was, Stephie.«
»Ja, Eric?«
»Pass auf dich auf«, warnt er sie. »Das Lächeln von dem Typen schafft's nicht bis zu seinen Augen hoch. Er ist ganz offensichtlich auf Beute aus.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich kenne mich mit Special Agent Tobias Linder gut aus«, antwortet Stephie. »Ich werde schon vorsichtig sein.«
Sie klickt ihr Funkgerät wieder an ihren Gürtel und beobachtet dann, wie das Auto um die lange Reihe von Schulbussen herumfährt und ein paar Meter von ihr entfernt zum Stehen kommt. Special Agent Tobias Linder steigt aus, zieht sich eine Gesichtsmaske über und schreitet anschließend schnellen Schrittes auf Stephie zu.
»Sheriff Stieglitz?«, fragt Linder und hält seinen FBI-Ausweis hoch. »Ich bin Special Agent Tobias Linder. Haben Sie einen kurzen Augenblick Zeit für mich?«
Stephie betrachtet den Mann von oben bis unten. Er ist groß und muskulös, dunkelhaarig, mit braunen Augen. Unter der Jacke seines Anzugs, auf der sich bereits die Asche sammelt, kann sie an seiner rechten Hüfte den Umriss einer Pistole erkennen. An der Innenseite seines linken Fußgelenks zeichnet sich leicht eine zweite Pistole ab. Als sie wieder hochschaut, fängt Linder ihren Blick auf und sie weiß instinktiv, dass alles wahr ist, was sie bisher über den Mann gehört hat: Er ist auf der Jagd!
»Ein kurzer Augenblick ist so ziemlich alles, was ich gerade habe«, antwortet Stephie, als sie auf Linder zugeht. »Was führt denn das FBI hierher? Ich habe gedacht, dass alle Bundesangestellten gerade mit der angekündigten Verhängung des Kriegsrechts beschäftigt sind.«
»Ja, schon. Aber ich bin gerade dabei, noch ein paar offene Akten zu schließen, bevor das große Chaos ausbricht«, antwortet Linder und steckt seinen Ausweis wieder zurück in die Tasche. Er holt nun das Foto des Jungen heraus und hält es Stephie hin, damit sie es sich ansehen kann. »Dieser Junge ist bereits vor mehr als zehn Jahren verschwunden, und es sind gerade ein paar neue Informationen darüber aufgetaucht, dass er sich hier in der Gegend befinden könnte.«
»Wirklich?«, sagt Stephie. »Tut mir leid, Ihnen diese Illusionen nehmen zu müssen, Agent Linder …«
»Einfach nur Linder, bitte«, sagt er. Seine Maske verzieht sich, als er grinst.
»Also, Agent Linder«, sagt Stephie und lacht innerlich, als sie die Augenwinkel des Mannes schmal werden sieht. »In diesem Bezirk kenne ich wirklich jedes Gesicht, und dieses da habe ich noch nie gesehen.«
»Inzwischen ist er schon wesentlich älter«, erklärt Linder. »Eher ein junger Mann als ein Kind.«
»Seltsame Zeit, um an einem Vermisstenfall zu arbeiten«, sagt Stephie. »Mich wundert, dass das FBI Ihre Fahrt hier hoch autorisiert hat.«
Linder antwortet nicht, sondern steht einfach nur mit dem Foto in der ausgestreckten Hand da.
Stephie nimmt das Bild entgegen und sieht es sich genauer an, gibt aber darauf Acht, dass sie ihre Gefühle unter Kontrolle hat und einen neutralen Gesichtsausdruck beibehält.
»Ein hübscher Junge«, sagt Stephie. »Ist heute bestimmt ein gut aussehender junger Mann.« Sie gibt ihm das Foto zurück. »Für seine Eltern muss es ein schwerer Schlag gewesen sein, als er verschwunden ist.«
»War es auch«, bestätigt Linder.
»Haben Sie damit viel zu tun, Agent Linder?«, fragt Stephie. »Eltern, deren Kinder verschwunden sind, schlechte Nachrichten zu überbringen? Ich habe hier meistens nur mit Wanderern und Jägern zu tun, die sich verlaufen haben und nicht gefunden werden können, was schon schwierig genug ist. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sein muss, in der Vermisstenabteilung des FBIs zu arbeiten.«
Wieder antwortet Linder nicht. Er sieht zu der Reihe von Schulbussen hinüber. Stephie folgt seinem Blick.
»Also, wie Sie sehen können, habe ich heute ziemlich viel zu tun. Ich muss mich an feste Uhrzeiten halten, damit wir es pünktlich nach Coeur d'Alene schaffen«, erklärt Stephie.
»Coeur d'Alene?«, fragt Linder. »Ich habe gedacht, dass alle Zivilisten dieser Gegend runter an den Golf fahren sollen?«
»Wir treffen uns mit dem Bundeskonvoi«, entgegnet Stephie. »Und dann geht's weiter nach Seattle. Wir haben Plätze auf einem der Schiffsträger in Everett reserviert.«
»Das muss Sie ja Einiges an Vitamin B gekostet haben«, antwortet Linder lachend.
»Ich habe eine Freundin an der richtigen Stelle«, antwortet Stephie. »Außer einem Anruf hat es mich nichts gekostet.«
»Ja«, sagt Linder nickend. »Das reicht manchmal aus. Ein einziger Anruf.«
Stephies Blut gefriert augenblicklich in ihren Adern, als ihr klar wird, warum Linder plötzlich in Champion aufgetaucht ist. So viele Jahre voller Vorsicht, und dann hebt sie mit der Entscheidung den Telefonhörer, sich mal eben ein Jahrzehnt voller Gefallen zurückzahlen zu lassen.
»Also hören Sie, Agent Linder«, sagt Stephie. »Ich bin ungern unfreundlich, aber ich muss mich jetzt wirklich um andere Sachen kümmern. Ich hätte Ihnen gerne mehr geholfen. Ich würde Ihnen ja anbieten, sich unserem Karavan anzuschließen, aber ich bin mir sicher, dass Sie noch zu tun haben.« Sie zeigt auf die sechs Busse. »Und wie Sie sehen, beladen wir immer noch zwei Busse, von daher werden Sie vermutlich keine Zeit damit verschwenden wollen, auf uns zu warten. Am besten sehen Sie zu, dass Sie Ihr Auto aus dem Ascheregen fahren, bevor der Motor anfängt zu streiken.«
»Ach, ich denke, ich werde noch etwas bleiben und mich mit ein paar Ihrer Bürger unterhalten«, sagt Linder. »Jetzt bin ich schließlich schon so weit gekommen, dass es mich zu Tode ärgern würde, wenn ich mich nicht weiter darum bemühen würde. Das stört Sie doch nicht, Sheriff, oder? Ich verspreche Ihnen auch, dass ich Sie nicht aufhalten oder Ihnen im Weg herumstehen werde. Und Sie sagten ja, dass Sie noch darauf warten, zwei Busse zu füllen.«
»Machen Sie nur«, antwortet Stephie, »aber versuchen Sie, nicht zu aufdringlich