»Von Besaufen habe ich nichts gesagt. Ein paar Drinks sollst du dir genehmigen«, antwortet Dr. Probst.
Die Wissenschaftler knien sich jetzt neben die Kiste und machen sich an die Arbeit. Jeder von ihnen untersucht das Messgerät systematisch. Auf diese Art und Weise überprüfen sie auch die Arbeit des anderen und stellen sicher, dass sie nicht schon bald wieder herkommen und die Sensoren erneut reparieren müssen.
»Das sollte es gewesen sein«, erwidert Dr. Tomlinson. »Funktioniert's?«
»Kleinen Augenblick noch«, antwortet Dr. Probst.
Die beiden Vulkanologen warten ungeduldig, während ihre Kollegin daheim in Reston, Virginia, die an den Hauptsitz des USGS übermittelten Signale und Messwerte überprüft. Dr. Tomlinson sieht währenddessen in den trüben Winterhimmel hoch und ignoriert die kleinen Ascheflocken, die anfangen, seine Gesichtsmaske aus Plastik zu bedecken. Es ist fast schon ein Ding der Unmöglichkeit, die echten Wolken von den endlosen Aschewolken zu unterscheiden, die aus diversen Stellen in der Nähe des Yellowstone Kraters emporsteigen. Der Mann schüttelt den Kopf, sieht dann nach unten und beobachtet, wie die grauen Flocken weich auf der vor ihnen versteckten Erde landen.
»Zeigt es etwas an?«, fragt Dr. Hartness nun.
»Ja, das schon«, antwortet Dr. Probst. »Aber es ergibt keinen Sinn. Ist da vielleicht irgendwo ein Auto in der Nähe?«
»Ein Auto?«, fragt Dr. Hartness verwirrt. »Was ist denn das für eine Frage?«
»Ich bekomme zwar Werte, aber die sind alle gleich und fast rhythmisch«, gibt Dr. Probst zurück. »Darum wollte ich wissen, ob eventuell ein Auto in der Nähe ist. Vielleicht irgendein Hartgesottener, der sich nicht evakuieren lassen wollte und nun dort draußen in seinem aufgemotzten Truck mit aufgedrehter Stereoanlage herumfährt.«
Mühsam dreht sich Dr. Hartness in ihrem Schutzanzug herum, dessen dickes Plastik knittert und sich biegt, zu Dr. Tomlinson um. Der Mann erwidert ihren Blick mit einem Schulterzucken, was in seinem ebenso massiven und unförmigen Anzug allerdings kaum bemerkbar ist.
»Wir haben nichts gesehen«, meint Dr. Hartness. »Das müsste schließlich eine monströse Anlage sein, wenn die Sensoren sie bemerken.«
»Spürt ihr denn irgendwas?«, fragt Dr. Probst. »Denn was auch immer es ist, es sollte ungefähr … hm … auch egal. Jetzt hat's aufgehört!«
»Heißt das, dass wir jetzt gehen können?«, fragt Dr. Tomlinson Allison.
»Ich sage euch gerade, dass die Sensoren eine komische Anomalie aufzeichnen, und du fragst, ob du jetzt gehen kannst?« Dr. Probst lacht spöttisch. »Netter Versuch, Bob.«
»Ich hasse dich, Cheryl«, antwortet Dr. Tomlinson. »Wir werden also alles auseinandernehmen und noch mal ganz von vorne anfangen.«
»Wie schön«, seufzt Dr. Hartness.
Dr. Tomlinson kniet sich wieder neben die Kiste und nimmt sein Werkzeug aus der Tasche. Er öffnet das Messgerät und hält dann mit einer Hand auf dem Boden inne.
»Hey – ich kann tatsächlich was fühlen«, sagt Dr. Tomlinson. »Es wird stärker. Allison, fühl auch mal. Das scheint nicht …«
Dr. Tomlinson wird plötzlich hart zu Boden gerissen und um ihn herum explodiert eine große Aschewolke. Er ist flach auf die Erde gepresst und sein Arm ist außer Sicht, während der Rest von ihm erzittert, als er zu schreien beginnt.
»Bob!«, ruft Dr. Hartness entsetzt und stürzt auf ihn zu. »Bob! Was ist denn passiert?«
»Heilige Scheiße!«, schreit Dr. Tomlinson. »Es hat meinen Arm! ES HAT MEINEN ARM!«
Dann ist der Mann plötzlich wieder frei und rollt hektisch über den Boden. Sein rechter Arm ist abgerissen!
Blut spritzt überallhin und färbt die graue Asche schwarz. Statt weiter auf ihn zuzulaufen, stolpert Dr. Hartness zurück, dreht sich um und übergibt sich geräuschvoll. Das Erbrochene erfüllt ihren Schutzanzug, woraufhin sie sich noch stärker übergeben muss, während ihr Kollege weiterhin schreiend auf dem Boden liegt.
»Allison! Bob!«, ruft Dr. Probst über den Funk. »Was ist denn? Was ist passiert?«
Dr. Hartness reißt sich daraufhin den Kopfschutz ihres Anzugs herunter und zerrt sich das ganze Ding so schnell wie möglich vom Leib. Ihre Brust ist förmlich von ihrem Erbrochenen getränkt. Vor lauter Angst, dass sie nie wieder mit dem Brechen aufhören kann, vermeidet sie es, den keinen Meter entfernten Mann anzusehen, der panisch nach Hilfe schreit. Aber leider tröstet sie das, was sie nun stattdessen sieht, kein bisschen.
»Was zum Teufel …?«, keucht sie, als die Asche sofort beginnt, in ihrer Kehle kleben zu bleiben. Die Erde vor ihr entwickelt plötzlich Risse und reißt auf, und dann schießt etwas Langes und Knallblaues hervor. Es wickelt sich um Dr. Hartness' Körper und zerrt sie in das gerade entstandene Loch und faltet sie praktisch zusammen, damit sie dort hineinpasst. Wie ein kleiner Geysir spritzt nun Blut aus dem Loch. Geysire sind in Yellowstone keine Seltenheit; welche aus menschlichem Blut allerdings schon.
»Bob!«, schreit Dr. Probst. »Sag mir, was bei euch los ist!«
Aber Dr. Tomlinson ist zu sehr mit Schreien beschäftigt, um ihr eine Antwort geben zu können. Und danach ist er zu beschäftigt damit, von demselben langen, knallblauen Ding in das Loch gezerrt zu werden. Seine Schreie verstummen plötzlich, und nur noch das Summen aus Dr. Hartness' Funkkopfhörer ist zu hören. Der leere auf dem Boden liegende Schutzanzug wird langsam von Asche bedeckt.
»Bob! Allison! Redet mit mir!«, ruft Dr. Probst aufgeregt aus dem Kopfhörer. »Hallo? Hallo? Sagt mir, dass alles in Ordnung ist! Lasst mich eure Stimmen hören! Bitte!«
***
Hank Williams' Lonesome Whistle spielt leise, als das neue Auto in Montana über den mit Asche bedeckten Highway fährt. Special Agent Tobias Linder starrt angestrengt durch die Windschutzscheibe, während winzige Ascheflocken vom Himmel schweben und sich zu der einen Zentimeter hohen Asche gesellen, die in den letzten achtundvierzig Stunden gefallen ist. Er hat mittlerweile den Überblick darüber verloren, wie viel insgesamt auf den Boden liegt. Seine Aufmerksamkeit wandert nun vom Highway 37 zu seinem Armaturenbrett und dem kleinen Gerät, das ihm ständig rote Zahlen anzeigt.
Er seufzt, als die Zahl innerhalb von Sekunden von sechsunddreißig Prozent auf achtunddreißig Prozent steigt. Nach zwei Meilen erreicht die Zahl bereits vierzig Prozent, was bedeutet, dass er sein Ziel wahrscheinlich gerade noch so erreichen wird, bevor er den Luftfilter auswechseln muss. Sonst wird der Automotor unweigerlich an Asche ersticken und zu einem nutzlosen Metallklumpen werden.
Zum siebzehnten Mal an diesem Morgen klingelt sein Handy, aber er ignoriert es. Denn er weiß genau, was für eine Nachricht ihm hinterlassen werden wird. So gerne er auch seine Pflicht erfüllen würde, die ihm vom Präsidentenamt der Vereinigten Staaten vorgeschrieben wird, hat Linder doch etwas ganz anderes vor, als bei der Evakuierung der südwestlichen USA zu helfen. Denn ein paar Meilen weiter in Champion, Montana, einer Kleinstadt am Lake Koocanusa, erwartet ihn bereits eine wichtige Aufgabe.
Zumindest hofft er das. Es hat über zehn Jahre und Hunderte von Fährten, die in Sackgassen geendet haben, gedauert, bis er diesen Ort endlich gefunden hat. Und ob der Supervulkan nun ausbricht oder nicht – Linder hat nicht vor, sich diese Chance entgehen zu lassen. Er ist früher schon einmal nahe dran gewesen, aber dann kam er doch immer knapp zu spät. Dieses Mal sagt ihm allerdings sein Bauchgefühl, das er richtig liegt. Die Person, die er jagt, ist nur noch ein paar Meilen entfernt. Und all das hat er einem einzigen überwachten Telefongespräch zu verdanken.
Die letzten Klänge von Hank Williams verstummen, aber Linder ignoriert die fehlende Musikberieselung einfach, als er um eine Kurve fährt und sich plötzlich zwei Sheriffautos gegenübersieht, die quer auf der Straße stehen. Er hält an und kurbelt sein Fenster herunter, als ein verwundert aussehender Deputy mit einer hellblauen OP-Maske über Mund und Nase zu ihm herüberkommt.