»Bist du von der Polizei?« fragte sie und verfolgte mit den Augen ein Auto, das gerade langsam vorbeifuhr.
»Nein«, sagte Moss. »Ich frage im Auftrag eines Vaters, der sich verdammte Sorgen macht.«
Das Mädchen streckte widerwillig die Hand aus, betrachtete das Bild und zuckte mit den Schultern. »Kommt mir nicht bekannt vor. Wie alt ist sie denn?«
»Fünfzehn auf dem Bild, inzwischen achtzehn«, sagte Moss.
Das Mädchen schüttelte den Kopf und gab ihr das Bild zurück.
»Hättest du es mir gesagt, wenn du gewußt hättest, wer es ist?« fragte Moss. Das Mädchen zuckte wieder mit den Schultern. »Weiß nicht. Wenn ich wüßte, daß sie nicht will, daß ihre Leute sie finden, hätte ich nichts gesagt. Aber ich kenne sie nicht. Echt nicht.«
Sie schob die Hände unter die Pobacken, fröstelte.
»Es muß verdammt kalt sein, auf dieser Treppe zu sitzen«, brach es aus Moss hervor.
»Kalt? Verdammt, ich hab jetzt schon seit vier Monaten ’ne Blasenentzündung! Die Antibiotika helfen nicht.«
»Du hättest dich wärmer anziehen sollen«, sagte Moss, die auch eine Mutter war.
Das Mädchen verzog den Mund, so daß die Wunde im Mundwinkel aufplatzte. »Wollunterhosen? In diesem Job? Gute Idee. Hör mal, kannst du nicht abhauen? Du vergraulst mir die Kunden, ich will hier echt nicht länger sitzen als nötig!«
»Brauchst du Geld?« fragte Moss und fühlte sich dumm.
»Wenn du zweitausend Kröten hast, schon«, sagte das Mädchen.
Moss, die gerade mal hundertzwanzig Kronen im Portemonnaie hatte, drehte sich um und ging.
Als sie zu Hause war, rief sie Willy Bertelsen an. Er sprach leise und murmelnd, und sie begriff, daß er seiner Frau nichts davon erzählt hatte, daß er jemanden in die Stadt geschickt hatte, um nach der Tochter zu suchen. »Können Sie nicht morgen mal zum Anleger runterkommen, dann können wir uns näher unterhalten«, hatte er gesagt, und da hatte sie aus einem Impuls heraus geantwortet, daß sie gerne mitkommen und Netze einholen würde.
Er hatte gezögert. Hatte gesagt, daß es kalt sei und daß sie schon um vier Uhr morgens losführen.
»Ist in Ordnung«, hatte Moss erwidert. »Ich fühle mich wohl auf See, und ich habe nichts vor, was ich versäumen würde.«
Und das war der Grund gewesen, warum sie zehn Stunden später auf dem Vordeck gestanden hatte, als die Oslopiken auf das schwarze Wasser des Bunnefjord hinausgetukkert war.
Margaret Moss sah auf ihre Armbanduhr, es war bald zwei. Sie erhob sich, nahm ihre Umhängetasche und den Beutel aus dem Schnapsladen und ging steifbeinig zur Rolltreppe, auf der sich die Rentner aus Bjerke und Etterstad drängten, auf der Jagd nach Adrenalinstößen im Alltag.
Draußen wehte ihr Straßenstaub in großen Wolken entgegen, sie kniff die Augen zusammen und stemmte sich gegen den Wind. Während sie an der Ampel wartete, sah sie plötzlich, wie ihr eine bekannte Gestalt auf dem Bürgersteig entgegenkam, ihr Herz übersprang einen Schlag und raste dann davon.
Es war Karen.
Zusammen mit einem langen Kerl mit rasiertem Kopf, Lederjacke, Skaterhose und einem riesigen Hund, dessen Leine am ehesten einer Wäscheleine ähnelte.
Sie öffnete den Mund, um zu rufen, doch da hatte Karen sie schon entdeckt, und im Handumdrehen war sie auf der Straße. Sie rannte, daß ihr Haar flatterte, bahnte sich einen Weg zwischen den hupenden Autos und lief hinüber auf die andere Straßenseite.
»Verdammt noch mal!« rief Margaret in den Verkehrslärm. »Stop!«
Ob sie die Autos oder ihre Tochter meinte, wußte sie nicht einmal selbst. Sie begann auch zu laufen, aber ein riesiger Schatten glitt von links heran, und sie hielt sofort an.
Mit einer Straßenbahn sollte man sich lieber nicht anlegen. Sie hat einen langen Bremsweg und hat einem die Beine abgetrennt, ehe man selbst und der Fahrer sich’s versehen haben.
Als die Verkehrslage endlich wieder etwas klarer war, sah sie den Jungen und Karen drüben auf der anderen Straßenseite, ganz hinten am Zeitungskiosk. Er hielt sie am Arm und blickte zu Margaret hinüber, die die Straße bei grünem Licht überquerte. Sie hatte das unangenehme Gefühl, daß er und nicht ihre Tochter stehengeblieben war, um zu warten.
Seine Augen unter den dunklen Brauen waren überraschend leberblümchenblau. Als sie bei ihnen war, ließ er Karen los und drehte sich zum Gehen. »Bis später«, sagte er über die Schulter hinweg, dann gingen er und der Hund über die Straße in Richtung Kirkeristen.
Karen begegnete dem Blick ihrer Mutter und zuckte mit den Schultern. »Okay«, sagte sie. »Es ist ja gar nicht so, daß ich nicht mit dir reden will.«
»Aha«, sagte Moss.
3
Look at me, I’m as helpless
as a kitten up a tree.
Burke/Garner
»Du hast mir da überhaupt nicht reinzureden«, sagte Karen, als sie im Taxi saßen, und starrte vor sich hin. »Du hast doch selbst niemals ein geordnetes Leben geführt.«
Nein, das hatte sie natürlich nicht, Margaret Moss sah aus dem Autofenster. Sie fuhren Richtung Smestad, so schnell, daß der Kies eines langen Winters hochspritzte. »Kannst du begreifen, warum sie nie die Straßen kehren?«
»Nein«, sagte Karen.
»Dafür bezahlen wir doch Steuern, oder etwa nicht?« sagte Margaret.
»Weiß nicht, ich hab noch nie welche gezahlt«, sagte Karen. »Mama, er ist ein anständiger Typ, echt jetzt.«
»Warum meldest du dich denn nie zu Hause?« fragte Margaret.
»Ach Mann«, sagte Karen. Dann schwieg sie und kaute auf der Innenseite ihrer Wange.
»Hat er gesessen?« fragte Margaret.
»Nein!«
Karen kaute weiter, blickte hartnäckig aus dem Fenster.
»Okay, was ist es dann?« sagte Margaret.
»Ich wußte, daß du Streß machst«, sagte Karen. Dann drehte sie sich um und betrachtete ihre Mutter eingehend. »Pfui Teufel, wie siehst du eigentlich aus? Hast du dich heute nicht gekämmt, oder was?«
»Nein«, sagte Margaret. »Ich ... ach, Karen, ich ... wir haben eine Wasserleiche gefunden! Heute frühmorgens, draußen bei Fagerstrand, sie lag mit dem Gesicht im Wasser, und einen ganz kurzen Moment habe ich gedacht, du bist das!«
Ohne Vorwarnung begann sie zu weinen. Sie beugte sich vornüber und preßte die eine Hand vor den Mund.
»Was?« sagte Karen. »Wo bist du gewesen?«
»Auf einem Schiff«, sagte Margaret, ohne die Hand wegzunehmen. »Sie hatte ein rotes T-Shirt an, und ich wußte nicht, ob es deines war, ich wasche ja nicht mehr deine Wäsche.«
Sie weinte und weinte, und als das Taxi in Smestad vor der verfallenen Villa im funktionalistischen Baustil anhielt, mußte Karen in ihrer Umhängetasche nach Geld suchen, um zu zahlen. Dann stiegen sie aus, und Karen sah unentschlossen aus, bevor sie einen Arm um den Rücken ihrer Mutter legte und sie die schmale Auffahrt entlang stützte.
Als sie an die Haustür kamen, stand dort eine alte Dame in schmutzigen rosafarbenen Pantoffeln, heruntergerutschten Kreppstrümpfen und einem Tweedrock voll weißer Katzenhaare. Margarets Tante Maisen.
»Das schlägt doch dem Faß den Boden aus!« sagte sie und tippte die Asche von ihrer Zigarette ab, die sie zwischen zwei Fingern hielt. »Wart ihr alle beide auf Zechtour?«
Eine Viertelstunde später