Es würde ein langer Tag werden. Das tote Mädchen trieb in ihre Gedanken hinein und wieder hinaus, genau wie es von der See hin- und hergetrieben worden war.
Nach einem Krabbenbrot und einer Tasse Tee fühlte Moss sich allmählich etwas besser. Sie würde sich jedenfalls nicht mehr übergeben müssen.
Sie gähnte lange und schüttelte sich, sie spürte, daß sie einen pelzigen Belag auf den Zähnen hatte, und das Haar hatte sich draußen auf See verfilzt. Vermutlich hätte sie einen Blick in einen Spiegel werfen sollen, bevor sie ins Café ging. Besonders stadtfein war sie auch nicht in ihrem ausgeblichenen Parka, den verwaschenen Jeans und den schmutzigen Joggingschuhen.
Die Fahrt heute nacht war vergeblich gewesen, in jeder Hinsicht.
Warum hatte sie sich überhaupt in die Sache mit Bertelsens verschwundener Tochter hineinziehen lassen?
Gib’s zu, Moss. Du hast es nicht verwunden, daß du bei der Ortskundigkeitsprüfung für den Taxischein durchgefallen bist!
Nein, vermutlich hatte sie das nicht.
Sie hatte versucht, den Taxischein zu machen, hatte gemeint, es müsse ein leichtes Spiel sein für eine, die die Stadt wie ihre eigene Westentasche kannte. Eine, die in kalten und defekten Autos in jeder verdammten Nebenstraße von Oslo gesessen hatte, auf der Jagd nach untreuen Ehemännern und ebensolchen Ehefrauen. Daher hatte sie es mit dem Lernen nicht so genau genommen. Allerdings war sie deshalb durchgefallen, und so würde es weiterhin kein Zubrot zu dem wenigen geben, was sie als Privatdetektivin zusammenzukratzen vermochte. Typisch fehlgeschlagener Plan. Und davon hatte sie ja genug gehabt in ihrem Leben, von dem Tag, an dem sie als mittelmäßig erfolgreiche Schauspielerin das Nationaltheater verlassen hatte, über ein miserables juristisches Examen auf der Grenze zum Nichtbestehen, bis zu dem Tag, an dem sie im Jähzorn beim Polizeipräsidium von Oslo gekündigt hatte, noch vor Abschluß des praktischen Teils der Ausbildung, und als Privatdetektivin begonnen hatte.
Aus diesem Grund hatte sie auch keine Zulassung als Rechtsanwältin.
Und jetzt bekam sie nicht einmal eine Zulassung als Taxifahrerin.
Shit!
Und Karen wollte nicht mehr zu Hause wohnen, und anrufen tat sie auch nicht. Die depressive und ironische Verfassung war also kein Wunder. Und Moss wußte, daß eine solche Stimmung sie zu merkwürdigen Dingen verleitete. Zum Beispiel, nach den ausgerissenen Gören anderer Leute zu suchen. Die berühmten Nadeln im Heuhaufen. Normalerweise übernahm sie keine solchen Fälle, es hatte keinen Sinn, die Jugendlichen hauten aus freien Stücken ab und kamen erst zurück, wenn sie selbst Lust dazu hatten. Aber offenbar hatte sie ihren empfindsamen Tag gehabt, als Bertelsen sie gefragt hatte, ob sie ihm helfen könne. Der freundliche Bertelsen, bei dem sie manchmal Fisch kaufte, wenn er mit seinem Fischkutter unten an der Anlegebrücke beim Rathaus lag.
Das war vor drei Tagen. Sie war an den Beinen zu dünn bekleidet gewesen, hatte sich auf einen verräterischen Föhnwind verlassen und die hochhackigen Lederstiefeletten mit der dünnen Sohle angezogen. Mit klappernden Absätzen war sie gutgelaunt in die Stadt gegangen und hatte sich lediglich die Zeit genommen, von unterwegs anzurufen und sich nach dieser Taxiprüfung zu erkundigen.
Und dann war sie durchgefallen.
Sie hatte auf dem Platz vor dem Rathaus gestanden, und der Tag war plötzlich kalt und grau geworden.
Sie spürte, daß sie an den Beinen fror und wie die Blasenentzündung bereits wieder hinter der nächsten Ecke lauerte. Sie dachte daran, daß es heute auf den Tag vier Wochen her war, seit sie eine Art Lebenszeichen von Karen bekommen hatte, und daß zu Hause Rechnungen in Höhe von etwa 15 000 Kronen lagen. Da war sie aus der Telefonzelle und über den großen Platz gegangen, hatte das Glokkenspiel der Rathausuhr eine seltsame Version des Volksliedes ›På solen jeg ser‹ spielen hören und hatte sich dann in der Schlange bei Bertelsens Fischkutter wiedergefunden, wo sie um einen Liter Krabben und eine Portion Kabeljau gebeten hatte.
Irgend etwas mußte sie ja unternehmen.
Das Schiff hieß Oslopiken, das Oslomädel, und es hatte seinen Liegeplatz auf Nedre Bekkelaget. Baujahr 1939, der Motor war 1955 ausgewechselt worden, und jedes Frühjahr war das Deck lackiert und alles unterhalb der Wasserlinie mit Antifouling bestrichen worden.
Bertelsen selbst war etwa fünfzig Jahre alt, dünn und sehnig und mit einem Isländerpulli und einer orangefarbenen Kunststoffhose bekleidet. Er hatte sie mit einem hellblauen und bekümmerten Blick angesehen und gefragt, ob sie tatsächlich Detektivin sei.
So war es gekommen, daß Moss für eine Weile bei Bertelsen anmusterte.
Sie war über ein Deck geschlittert, das glatt war von Seewasser und Fischeingeweiden, und war ungeschickt die steile Treppe hinuntergeklettert.
Unter Deck roch es nach Sonnenöl, Fisch und Petterøes Tabakmischung. Warm war es außerdem, sie öffnete ihre Jacke und sah sich neugierig um. Oslopiken war gut instand gehalten. Ein Kessel brodelte auf dem Propangasherd, und Willy Bertelsen schüttete aus einer Papiertüte Kaffee hinein.
»Der gute alte Kochkaffee«, sagte er, wobei er ihr den Rücken zuwandte. »Es heißt, er sei voller Cholesterin, aber egal. Möchten Sie Sahne?«
»Nein danke«, sagte Moss und nahm den Becher in Empfang, der nach Waldwanderungen und fünfziger Jahren roch.
Unter der niedrigen Decke war es neblig von Zigarettenrauch gewesen, bis Bertelsen endlich auf das Thema gekommen war, das ihm am Herzen lag.
»Sie ist früher schon mal verschwunden«, sagte er. »Und man will ja auch nicht überreagieren. Das sag ich zu meiner Frau. Sie ist vielleicht bei einer Freundin, sag ich.«
»Wie lange ist sie schon weg?« fragte Moss.
Er sah sie unglücklich an. »Das ist es ja, was wir nicht wissen. Sie hat seit einem Jahr ein Zimmer bei ihrer Oma, eine Art Mansardenzimmer. In Tøyen. Aber sie – also die Oma, die Mutter meiner Frau –, die ist ja so senil und verwirrt, daß sie nicht mitkriegt, wenn jemand kommt oder geht, vermutlich wollte Bente deshalb so gerne da wohnen. Sie dachte, sie könnte machen, was sie wollte. Und die Alte, also die Oma, die kann sich nicht mehr daran erinnern, wann Bente zuletzt zu Hause war.«
Er blickte düster in den dickwandigen weißen Becher. »Viel Hilfe können wir von ihr also nicht erwarten!« Er blickte Moss mit rotgeränderten Augen an. »Das heißt, es kann schon viele Wochen hersein.«
»Und die Polizei?«
»Nein, das wollen wir ja nicht. Wenn sie jetzt beispielsweise nur einen Kerl kennengelernt hat ... Wissen Sie, sie bringt uns um, wenn wir die Polizei einschalten. Sie ist so eigensinnig, unsere Bente, das ist sie immer schon gewesen, hat gemacht, was sie wollte. Aber diesmal sind wir unruhig, das sind wir wirklich.«
Moss trank Kaffee und dachte nach. »Was hatten Sie denn gedacht, was ich machen sollte?« fragte sie schließlich.
Da schluckte Willy Bertelsen, so daß sein großer Adamsapfel hüpfte. »Ich dachte, Sie könnten mal einen abendlichen Stadtbummel machen«, sagte er dann.
So kam es, daß Moss in der Abenddämmerung des folgenden Tages, ausgerüstet mit dem Konfirmationsbild von Willy Bertelsens Tochter, in die Stadt ging. Sie lief die ganze Tollbugata hinunter und sah sich an jeder Straßenecke gut um, ging die Prinsensgate wieder hinauf, machte einen Schlenker durch die Øvre Vollgate und ging durch die Akersgata zurück zum Wessels plass. Sie ging und ging durch die frühlingsblaue Dunkelheit, während Straßenbahnen klingelten und Autos Wolken von Abgasen verbreiteten, und sie sah an den Straßenecken und Toreinfahrten mehr als genug verwahrloste und verfrorene Mädchen, aber keines, das Bente Bertelsen ähnlich sah.
Schließlich blieb sie bei einer stehen, die auf der Treppe vor dem Papierwarenladen in der Dronningens gate saß.
»Kann ich dich was fragen?«
Das Mädchen blickte auf, sie hatte blondiertes, beinahe weißes Haar und einen Herpesausschlag am Mund, der schlimm