Wo aber sollen dann die Menschen mit ihrer Suche nach dem Jenseits hin, wenn die christliche Kirche sich geradezu verweigert? Es ist schon auffallend, wie selbst in evangelikalen und pietistischen Kreisen die ganze Welt des Unsichtbaren mehr oder weniger als unwichtig angesehen wird. Man glaubt sich mit dem Wort: Visionen, Engel, Dämonen oder selbst der Heilige Geist sind Dinge, die nicht so gut in dieses von der Aufklärung geprägte Denken passen, in der Hand auf sicherem Terrain! Aber immer wieder hat es auch Denker und Philosophen gegeben, die aus diesem angeblich modernen Denkraster ausscherten.
Einer der ersten, der bei Anbruch der aufklärerischen Zeit von sich reden machte, war der schwedische Naturwissenschaftler Emanuel Swedenborg (1688–1772). Er wurde als Bischofssohn in Stockholm geboren. Als Naturwissenschaftler und Erfinder sowie als Politiker genoss er bereits in jungen Jahren hohes Ansehen. Mit 37 Jahren jedoch beendete er seine Tätigkeit als Wissenschaftler. Er begründete diesen sensationellen Schritt mit einer Christus-Vision, die ihm zuteil geworden sei. Durch weitere Offenbarungen erhielt er Einblick in die »Welt der Geister«. Damit machte er die Redeweise von der jenseitigen Geisterwelt auch in Wissenschaft, Philosophie und Theologie wieder zum Thema.10 Das Denken Swedenborgs übte in der Folgezeit enormen Einfluss aus. So sieht Immanuel Kant den Menschen als »Bürger zweier Welten«, wobei für ihn die wahre Welt die Geisterwelt ist. Zahlreiche Kant-Forscher haben darauf hingewiesen, dass die grundlegenden Themen des Philosophen sich an Swedenborgs Thesen entzündeten.11 Auch Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) ließ sich durch Swedenborg inspirieren. Die Magie, der sich seine Figur Faust ergibt, ist eben der Verkehr mit der Geisterwelt, wie auch Swedenborg ihn pflegte. Für Goethe ist der schwedische Forscher zugleich ein »gewürdigter Seher unserer Zeiten«.12 Ansätze für eine neue Orientierung gab es auch bei pietistischen Lehrern wie z. B. dem schwäbischen Prälaten Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) u. a. Auf die Götterdämmerung zur Zeit der Aufklärung folgte zunehmend eine Dämmerung der Vernunft. Die Religion und damit auch die Hoffnung und Orientierung an einem unsichtbaren Jenseits wurde eben nicht durch eine von Vernunft geprägte Wissenschaft abgelöst; die Kirche erwies sich aufgrund ihrer wissenschaftlichen Verhaftung in der Theologie allerdings auch nicht als der geeignete Gesprächspartner für die neue Religiosität. So blieb der Mensch weitestgehend mit seinen religiösen Erfahrungen allein.
Die hohe Zeit der Psychologie nahm ihren Lauf. Zugleich entwickelte sich eine Art Kult der Humanität, der die Verehrung des Menschen als dem höchsten Wesen verpflichtet war. Selbst das Denken des einstigen sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow steht noch ganz in dieser Tradition. »Wir sehen den Sozialismus als die Gesellschaftsordnung eines echten realen Humanismus an, in welchem der Mensch tatsächlich als das ›Maß aller Dinge‹ auftritt« – so definierte er auf dem Parteitag der KPdSU laut »Prawda« vom 29. Juni 1988 das Ziel der »Perestroika«. Im selben Jahr erklärte seine Partei, dass der Mensch die Religion durch Erziehung überwinden könne und damit die »Hinwendung zum Übernatürlichen nicht vonnöten« sei.13
Gerade der durch die Perestroika ausgelöste Zerfall der sowjetischen Ideologie führte neben der Götterdämmerung auch zu einer Dämmerung der Ideologien. Meiner Meinung nach führte dieser Zusammenbruch ideologischer Systeme zu einem Boom okkulter Religionen.
Die Kleinanzeigen der Tageszeitungen bringen es an den Tag: Esoterik, Wahrsagerei und jegliche Formen okkulter Praktiken sowie die offenkundige Einladung zu Zauberveranstaltungen, Hexenzusammenkünften oder Einführungskurse in meditative Praktiken sind an der Tagesordnung. Im Jahr 2000 bedienten allein 37 deutsche Zeitschriften mit Auflagenhöhen zwischen 10 000 und 60 000 Exemplaren diesen Markt. Laut einer Befragung des Dortmunder Forsa-Instituts glauben 63 Prozent der Männer und 55 Prozent der Frauen in Deutschland an übersinnliche Kräfte und Erscheinungen, das sind 59 Prozent der Gesamtbevölkerung. Einem Bericht der Zeitung »Die Woche« zufolge gab es 2000 in Deutschland rund 6 000 Astrologen, 10 000 Geistheiler und 90 000 Wahrsager, wohingegen die Kirchen insgesamt nur rund 40 000 hauptamtliche Geistliche und Seelsorger beschäftigten.14
Auf Esoterik-Messen suchen unzählige Menschen unserer Zeit den Rückzug in die Innerlichkeit, die mal mehr und mal weniger auch einen Ausflug ins Jenseits ansteuern. Dabei kommt es gar nicht so sehr darauf an, was sich dort in der Innerlichkeit auftut oder welche Art von Kraft mir im Jenseits begegnet. Allein die Tatsache, dass sich durch derartige Begegnungen irgendein Einfluss oder auch eine Verwandlung im Leben zeigt (Transformationen), allein dieses Faktum zählt. Es gehört zur neuen Religiosität, dass sie vagabundiert und sich auf dem Markt der Möglichkeiten umschaut. Die Wahrheitsfrage ist dabei nicht ausschlaggebend, allein das Erleben zählt. Mal ist die übersinnliche Kraft mehr in der Natur oder im Diesseits aufzuspüren, ein anderes Mal sind weite Wege des Zugangs zu gehen. Auch das Bewusstsein für eine differenzierte Wahrnehmung des Jenseits ist nicht sehr ausgeprägt. Das Böse als aktive Kraft wird in esoterischen Zirkeln eher skeptisch gesehen. Erleuchtung oder auch ein »höheres Bewusstsein« erlangt der Esoteriker durch Rituale und Techniken, die von »Meistern« vermittelt werden – denjenigen, die eine geistige Transformation vollzogen haben und ihr Leben im Einklang mit den kosmischen Kräften und Gesetzen meistern. Immer wieder geht es in der Esoterik um diese »göttliche Energie«, die geweckt werden soll.
Grundlegend für diese Praktiken ist die Auffassung, dass es zwischen »Geist« und »Stoff« keine grundsätzliche Differenzierung gibt, sondern lediglich Abstufungen. Geist und Materie sind verschiedene Erscheinungsformen; die Wirklichkeit wird als einziges geistig-energetisches Kraftfeld verstanden, in dem »Entwicklung« möglich ist. Vor allem das Zauberwort »Energie«, die Vorstellung von einer den ganzen Kosmos durchdringenden »Lebensenergie« fasziniert viele Menschen.
Eine derartige Vorstellung liegt auch dem Yoga zugrunde. Durch bestimmte unsichtbare »Energie-Zentren« (Chakren) kann der Mensch Lebenskraft aus dem Kosmos aufnehmen und auch einsetzen. Der Einfluss des Yoga auf nahezu alle esoterischen Zirkel der Gegenwart sowie auf die Mitte der 1960er Jahre entstandenen New-Age-Bewegung ist unübersehbar.
Während in vielen esoterischen Kreisen das Interesse näher am Zugang zu dieser Energie und an ihren Auswirkungen liegt, ist im Okkultismus ein größeres Interesse an der Quelle der Energie zu entdecken. Dennoch sind die Grenzen zwischen Esoterik und Okkultismus nur schwer zu ziehen. Hans-Jürgen Ruppert spricht von einem »esoterischen Okkultismus«:
»Schon von der Wortbedeutung her ist ›Okkultismus‹ eng mit dem Begriff ›Esoterik‹ verwandt. Das griechische Wort esoteros (= ›innerlich‹, ›verborgen‹) entspricht dem lateinischen occultus. Dieser Begriff bezieht sich vor allem auf die Geheimhaltung des okkulten Wissens und auf dementsprechende Praktiken und Rituale, wie sie seit jeher in Geheimbünden gepflegt werden. In der Antike bezeichnete man als occulta die Geheimnisse, die in den Mysterien überliefert wurden.«15
Die weltanschauliche Grundauffassung ist in der Esoterik und im Okkultismus gleich: Es geht um eine monistische Auffassung der Wirklichkeit; sichtbare