Auch während meines Theologiestudiums erfuhr ich bei den Vorlesungen nicht viel anderes. Die These Karl Barths (1886–1968) von dem Bösen als dem eigentlich Nichtigen prägte auch in den meisten evangelikalen Seminaren die Diskussion. Doch dann wurde diese Harmlosigkeit erschüttert.
Ich hörte von den bewegenden Berichten einiger Missionare aus Indonesien oder auch aus Südafrika, von den Befreiungen dämonisch belasteter Menschen und dem Siegeszug Jesu in ganzen Landstrichen dieser Welt. Wie gerne wollte ich auch in der Mission meinen Dienst aufnehmen! Noch während meines Theologiestudiums bekam ich die Möglichkeit eines dreimonatigen Missionspraktikums in Sierra Leone, Afrika. Mit zwei weiteren Studenten machte ich mich auf die Reise. Wir kamen in ein Gebiet, wo es gerade einen geistlichen Aufbruch gegeben hatte. Eines Tages durften wir in ein weit entferntes Dorf gehen, um dort zu predigen und die gute Nachricht von Jesus zu verkündigen. Silvanus Valcacel, unser Begleiter, deutete auf einen Mann, der bislang zu den gefürchtetsten Männer der Gegend gehört habe. Er verstünde sich auf die Ferntötung von Menschen. Viele Frauen und Männer seien durch seine okkulte Machtausübung schon zu Tode gekommen. Mit großer Überzeugung fügte Silvanus dann aber hinzu: »Aber unser Herr Jesus Christus hat die Macht über alle finsteren Mächte! Halleluja!« – Mein »Halleluja« war etwas leiser als das meines afrikanischen Freundes. Irgendwie fand ich das schon sehr unheimlich!
Zurückgekehrt aus Afrika wurde ich ernstlich krank, so dass ich mehrfach ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Die Ärzte konnten meine Krankheit jedoch nicht diagnostizieren. Aus einer Darmverstimmung wurde eine Leberentzündung, aus einer Bauchentzündung wurde eine Tropenkrankheit, aus einer Immunsschwäche wurde schließlich sogar der Verdacht auf Leukämie. Nachdem die Blutwerte einigermaßen stabilisiert waren, entließ man mich aus dem Hospital. Ich war jedoch immer noch sehr schwach, so dass ich kaum laufen konnte.
In einem Gebetskreis berichtete ich von meiner Krankheit. Sicher, viele Menschen hatten in diesen schweren Monaten intensiv für mich gebetet, doch dieses Mal schien es anders zu sein. Die Leiterin des Gebetskreises meinte, es könne sich hierbei um einen dämonischen Angriff handeln, der mit meinem Afrikaaufenthalt zu tun habe. Wir sollten dämonischen Angriffen im Gebet und in der Macht Jesu Christi widerstehen. So schlossen wir uns im Gebet mutig zusammen, verkündeten Jesu Herrschaft in meinem Leben und wiesen die dämonischen Mächte zurück. Sofort spürte ich so etwas wie einen warmen, heilenden Strom, der meinen ganzen Körper durchdrang. Ich stand auf, war gestärkt und fühlte mich vollkommen geheilt! Sofort berichtete ich meinen Angehörigen und Freunden von diesem Wunder. Auch meine Mitstudenten und meine Lehrer im theologischen Seminar freuten sich mit mir. Unser sonst sehr zurückhaltender und wenig enthusiastischer Seminardirektor stieß sogar ein lautes: »Preist den Herrn!« aus, als er erfuhr, dass die Universitätsklinik in Göttingen meine vollkommene Heilung diagnostiziert hatte. Die Freude und Dankbarkeit war groß und ist immer noch groß, wenn ich an dieses Wunder denke, das ich am eigenen Körper erfahren habe.
Dennoch blieben Fragen: Warum hatten dämonische Mächte mich dermaßen attackieren können? Hatte ich die Macht des Bösen nicht richtig eingeschätzt? War ich zu blauäugig in den »geistlichen Kampf« gezogen? Immer wieder höre ich bis heute von den massiven Attacken Satans auf Missionare. Mancher kommt dabei zu Tode. Wieviel Macht hat der Böse?
Diese Erfahrungen haben mich in meinem Dienst als Pastor sensibel werden lassen für die Dimension der unsichtbaren Welt. In den ersten Jahren meines Dienstes hatte ich das große Vorrecht, desöfteren mit dem holländischen reformierten Theologen und Seelsorger Dr. Willem C. van Dam Zusammenarbeiten zu können. In vielen Seminaren und Tagungen habe ich seine nüchterne, biblisch gegründete Einschätzung der Fragen um den Einfluss Satans und die Macht Jesu kennen und schätzen gelernt. Ich habe meine ersten Erfahrungen im Befreiungsdienst in der Seelsorge gemacht; viele Menschen wurden von den Ketten der Finsternis befreit und erlebten innere und äußere Heilungen. In meinem 13-jährigen Gemeindedienst in der Baptistengemeinde in Hannover arbeitete ich mit Pastoren zusammen, die diese Sicht mit mir teilten. Sicher haben wir auch immer wieder Fehler gemacht; unter dem Strich jedoch glaube ich, dass auch in dieser Zeit unzähligen Menschen die Freiheit in Christus geschenkt wurde.
In der Gemeindepraxis wurde ich allerdings damit konfrontiert, dass Menschen nicht allein dämonisiert waren, sondern auch seelisch krank und zerbrochen, traurig und in Sünde lebten. Wo muss man da ansetzen? Muss ein Mensch erst befreit werden, bevor die Heilung geschehen kann? Muss erst Vergebung sein, bevor Heilung geschieht? Müssen im Befreiungsdienst bestimmte Gebete gesprochen werden? Können auch Christen unter dämonischem Einfluss stehen?
Offensichtlich waren wir mit unseren Fragen nicht allein. In den Jahren zwischen 1980 und 1990 erschienen viele hilfreiche Bücher auf dem christlichen Markt, die sich mit diesen komplexen seelsorgerlichen Fragen befassten. Die meisten stammten von amerikanischen Autoren. Einige Seelsorger berichteten von enorm beeindruckenden Erfahrungen und schlossen daraus, dass ihre Sicht der Dinge und auch ihre Form der Seelsorge »funktioniere« und womöglich die einzige oder zumindest die beste sei. Dieser Boom von seelsorgerlich geprägten »Rezeptbüchern«, die alle mehr oder weniger auf Erfahrung basierten, hatte aber auch negative Auswirkungen. So mancher Christ versuchte denn auch, Dämonen auszutreiben, wo es schlicht und einfach nur darum ging, im Gehorsam Jesus Christus nachzufolgen und der Sünde abzusagen. Auch die Zahl derer, die sich durch eine Überbetonung der unsichtbaren Welt schließlich nicht mehr in der sichtbaren Welt zurechtfanden und sogar krank wurden, nahm meines Erachtens zu.
Eine gute, solide theologische Basis und Gemeindelehre über diese Fragen ist auch heute noch der beste Weg, um den Gefahren und Missständen zu wehren. Suchte ich Hilfe und Orientierung bei meinen evangelikal-theologischen Freunden, so stieß ich allerdings häufig auf völliges Unverständnis, wenn es darum ging, dem Unsichtbaren mit einer klaren biblischen Grundhaltung zu begegnen. Alles, was irgendwie nicht »verwort-bar« war – alles, was nicht in die herkömmlichen Sprach- und Denkraster evangelikaler Theologie passte –, wurde mit großer Skepsis gesehen. Eine Erfahrung, die nicht auch an irgendeiner Stelle in der Bibel aufzufinden sei, konnte angeblich auch keinen besonderen Wert haben – oder sie wurde schlichtweg als »unbiblisch« degradiert und damit geradezu als ketzerisch entlarvt.
Besonders eisiger evangelikaler Gegenwind kam mir entgegen, als ich versuchte, die ekstatischen Erfahrungen im geistlichen Leben für zulässig zu erklären, die in den 1990er Jahren auch als »Toronto-Segen« bekannt geworden waren – so genannt nach der Toronto Airport Church, in der diese Erlebnisse erstmals verstärkt auftraten. Obwohl das biblische Zeugnis über Ekstase schmal ist, so konnte es meines Erachtens jedoch nicht völlig aus der Bibel gestrichen werden. Wie biblisch sind wir sogenannten bibeltreuen Theologen wirklich? Sind wir womöglich in einer rational geprägten Wahrnehmung und Deutung des Wortes Gottes so gefangen, dass wir große Teile der biblischen Offenbarung kaum wahrnehmen oder ausblenden?
Immer wieder, wenn es um den ganzen Bereich der unsichtbaren Welt geht, hört man bis heute meist nur Warnungen und Abgrenzungen. Neben dem bekannten englischen Altvater evangelikaler Theologie John Stott waren es in den vergangenen Jahren vor allem die Missiologen des amerikanischen evangelikalen Fuller-Seminars wie C. Peter Wagner, John Wimber oder auch Charles H. Kraft, die sich in die Diskussion einbrachten. Aber auch im deutschsprachigen Kulturraum ist man zurückhaltend. So weist z. B. der Gründer der evangelikalen und charismatischen Anskar-Kirche, Wolfram Kopfermann, in seinem 1995 erschienenen Buch »Macht ohne Auftrag« die Praxis der »geistlichen Kampfführung« deutlich in ihre Schranken. Die unsichtbare Wirklichkeit – auch in ihrer dämonischen Realität – wird hier zwar als gegeben vorausgesetzt, die sich ausbreitende Praxis des aktiven Widerstandes gegen »Territorialmächte« (dämonische Mächte, die ganze Landstriche prägen) aber energisch